Fliegt der „Tagesspiegel“ auf Easyjet? Eine Replik

  • von Markus Hesselmann

Ein Facebook-Kommentator verglich uns schon mit Herrn Müller-Lüdenscheidt und Herrn Dr. Klöbner. Ente raus oder Ente rein? War unsere Debatte derart kleinlich und prinzipienreiterisch geraten wie bei Loriots Badewannenmännlein? Ich denke nein. Wie wir gegen Schleichwerbung vorgehen, ist aus meiner Sicht eines der wichtigsten Themen im Journalismus und vor allem: für dessen Zukunft. Diese Frage rechtfertigt lange und gern auch leidenschaftliche Debatten. Deshalb freue ich mich, dass Stefan Niggemeier mir ermöglicht hat, für seinen Blog eine Replik zu schreiben.

Was ein Unternehmen denn wohl dafür zahlen würde, mit seinem Namen prominent im redaktionellen Teil einer Zeitung zu stehen? Das fragt sich Stefan Niggemeier und weiß es nach eigener Auskunft nicht. Ich weiß es auch nicht — und ich habe mich auch nie dafür interessiert. Das liegt unter anderem daran, dass ich Anfragen aus der Werbebranche in dieser Richtung — und die gibt es tatsächlich — immer sofort zurückgewiesen habe, unter anderem mit der Erklärung, dass Schleichwerbung dem Journalismus schadet, indem sie dessen Glaubwürdigkeit zerstört. Im weiteren versuche ich dann manchmal noch zu erläutern, dass Schleichwerbung letztlich auch nicht gut ist für Werbekunden. Denn wenn die Glaubwürdigkeit eines Mediums leidet, dann ist auch die Botschaft des Werbers, der für gutes Geld seine Anzeigen im Umfeld des redaktionellen Teils platziert, weniger wert. Bernd Ziesemer, der frühere Chefredakteur des Handelsblatts, hat dazu kürzlich noch weitere gute Argumente genannt.

In zwei Blogposts (hier und hier) hat Stefan Niggemeier einen Themen-Schwerpunkt des Tagesspiegels zum Berlin-Tourismus aufgegriffen und kritisiert. Er schlussfolgert: „Entweder die Zeitung hat sich von dem Unternehmen kaufen lassen. Oder eine komplette Redaktion hat versehentlich eine Werbesonderausgabe für Easyjet produziert.“

Beides trifft nicht zu. Unsere Redaktion lässt sich nicht kaufen und wir haben bewusst einen redaktionellen Schwerpunkt produziert. „Wie Billigflieger und Massentourismus in den vergangenen zehn Jahren Berlin verändert haben“, stand auf der Titelseite des gedruckten Tagesspiegels. Das halten wir für ein relevantes Thema in unserer Stadt, das einen solchen Schwerpunkt rechtfertigt. Über der Anmoderation stand der Begriff „Easyjetset“, an dem sich bereits ein Teil der Kritik entzündete, weil hier ein Unternehmen angeblich unzulässig hervorgehoben wurde. Es gebe doch schließlich noch andere Billigfluglinien und Easyjet sei noch nicht einmal die erste in Berlin gewesen.

Das aber war für uns nicht entscheidend. Es ging uns um einen Begriff, der für ein Phänomen steht, das wir beschreiben wollten, und als solcher ist das „Easyjetset“ längst eingeführt. Von der „taz“ über die „Zeit“ bis zu „Focus“: Viele andere Medien haben den Begriff bereits prominent verwendet. Bei Suhrkamp liegt ein Buch mit dem Titel „Lost and Sound: Berlin, Techno und der Easyjetset“ vor.

Ein Ryanair- oder gar Germanwings-Jetset ist nicht dokumentiert. Im Fall Easyjet ist eine Marke begrifflich über sich hinausgewachsen. Das soll es zuvor auch schon gegeben haben, vom Tempotaschentuch bis zur Generation Golf. Keine Rede vom Softistaschentuch oder der Generation Fiesta.

Der wichtigste Punkt bei all dem: Die Initiative für den Schwerpunkt ging allein von der Redaktion aus. In der Umsetzung aber gibt es für uns aus der Kritik — sie kam nicht nur von Stefan Niggemeier, sondern auch von „Tagesspiegel“-Lesern und nicht zuletzt -Kollegen — eine Menge zu lernen. Zum Beispiel, dass sich Schwerpunkte aus der gedruckten Zeitung nicht so einfach auf unsere Online-Seite übertragen lassen. Es macht einen anderen Eindruck, wenn durch ein Print-Layout eine Einordnung vorgegeben wird. Wenn es dort zum Beispiel einen Kasten zu anderen Fluggesellschaften gibt — von Stefan Niggemeier als zu klein befunden, auch darüber kann man diskutieren. Und wenn der vor allem kritisierte Text mit den Statistiken zu Easyjet auf den Druckseiten eben erst an dritter Stelle eingeordnet ist, seiner Relevanz als Zusatzstück entsprechend, nach dem Essay über Städtereisen und der Reportage über das touristische Berlin. Online wird all dies als gleichberechtigt wahrgenommen. Da werden wir künftig deutlich mehr anmoderieren und verlinken, um die redaktionelle Intention eines Themen-Schwerpunkts besser nachvollziehbar zu machen. Der Kasten mit den anderen Billigfluglinien etwa war online gar nicht verlinkt. Das haben wir jetzt nachgeholt.

Unabhängig von all dem hätte zu dem Themenschwerpunkt sicher ein ausführliches Stück zur Klimabilanz der Billigfliegerei gehört. Das ist ein Versäumnis, auf das uns auch viele Leser zu Recht hingewiesen haben. Wir werden nun einen solchen Beitrag recherchieren und nachliefern, besser spät als nie.

Und nicht zuletzt ist es wichtig, dass wir Fehler vermeiden. Stefan Niggemeier hat uns zu Recht auf sachliche Fehler in Überschriften, Vorspannen und Texten hingewiesen. Den Statistikbeitrag haben wir daraufhin offline genommen, denn dessen Pointe beruhte auf einer falschen Zahl. Dass solche Fehler, die nicht allein in der Verantwortung eines Autors, sondern auch von Redakteuren, Ressort- und Redaktionsleitern liegen, unserer Glaubwürdigkeit schaden, ist uns bewusst. Wir wollen es künftig besser machen.

Markus Hesselmann ist Redaktionsleiter Online beim „Tagesspiegel“.

Der „Tagesspiegel“ fliegt auf Easyjet (2)

Um die merkwürdige Welle von Easyjet-Artikeln, die der „Tagesspiegel“ Anfang der Woche online veröffentlichte, angemessen würdigen zu können, muss man vielleicht die Titelseite der Zeitung vom vergangenen Sonntag kennen, in der diese Artikel erschienen. „Easyjetset“ stand da in großen Buchstaben vor einem irgendwie heimeligen Bild vom Berliner Fernsehturm im Sonnenauf- oder Untergang:

Ich weiß nicht, wie viel ein Unternehmen dafür zahlen würde, seinen Namen in dieser Form auf der Titelseite einer Zeitung präsentiert zu sehen. Meine Arbeitshypothese: viel.

Vier redaktionelle Seiten widmete der „Tagesspiegel“ am Sonntag der Fluggesellschaft, weil sie vor zehn Jahren zum ersten Mal Berlin anflog. Das Thema ist angeblich, wie „Billigflieger und Massentourismus“ in dieser Zeit die Stadt verändert haben. Aber der eine Billigflieger, dessen Name auf diesen Seiten immer wieder genannt wird, ist Easyjet. Dass es noch andere Billigflieger gibt, die Berlin ansteuern, erfährt man nur in einem kleinen Kasten.

Dabei war Easyjet vor zehn Jahren nicht einmal der erste Billigflieger, der Berlin-Schönefeld anflog, sondern der sechste. Man würde das als Leser dieser „Easyjetset“-Seiten aber nicht ahnen, die bedeutungsschwanger referieren, dass es eine Boeing 737 gewesen sei, die am 28. April 2004 als erste Easyjet-Maschine in Berlin landete, dass sie aus Liverpool gekommen sei, 122 Passagiere an Bord gehabt habe und bei ihrer Ankunft von der kalifornischen Popband Berlin begrüßt worden sei mit dem Lied „Take My Breath Away“.

Kevin P. Hoffmann, der Wirtschaftschef des „Tagesspiegel“, hat sich von dem Unternehmen nicht nur ausrechnen lassen, wie viel Bier in dieser Zeit an Bord der Flüge ab Schönefeld getrunken wurde, und sich für die Zahl grundlos begeistert. (Sein Artikel „Mit 14.519 Litern Bier zum Mars“ ist aktuell nicht mehr online, weil er neben anderem Unsinn auch noch die falsche Entfernung zum Mars nannte, was einerseits egal ist, andererseits für dieses bekloppte Stück zentral.) Hoffmann hat auch ein bisschen mit dem Deutschlandchef von Easyjet geplaudert. Kostprobe:

Wo sind Sie gern in Berlin?

Vor ein paar Jahren war ich erstmals mit meiner Familie da. Damals hatten wir ein Hotel in Mitte an der Museumsinsel, das nächste Mal in Prenzlauer Berg und vor drei Wochen waren wir in Friedrichshain. Das war auch super. Was denken Sie: Wo sollen wir als Nächstes hin?

Vielleicht mal in den Westen, nach Schöneberg oder Neukölln. Man sagt auch: Der Wedding kommt …

Prima, das versuchen wir.

Eine Kollegin hat die Gelegenheit genutzt, die „einschwebenden Gäste“ zu befragen, die aus einem der „mehr als 40 Flugzeuge der Airline Easyjet“ ausstiegen, die „allein an diesem Freitag“ in Schönefeld landeten. Kann man auch mal machen.

Eröffnet wird das Easyjet-Extra von einem Essay von Rüdiger Schaper, dem Leiter des Feuilletons. Ihn bringt der Easyjet-Tourismus ins Schwärmen:

Billigflüge sind die Ausflüge der Neuzeit, davon profitiert besonders die Kultur. Auf kurzen Reisen in engen Sitzreihen lebt der Gedanke des Gemeinsamen.

Er beginnt seinen Text mit einer Erinnerung an die alten Flugschauen und schreibt:

Heute sitzen die Massen im Airbus, vor allem im letzten Jahrzehnt hat sich die Vorstellung der Flugschau radikal verändert: nach Barcelona oder Istanbul zur Party fliegen und schauen, was abgeht, oder nach Paris ins Museum. Auch der stets unruhige, auf gepacktem Rollkoffer sitzende Kulturbürger gehört zur „Generation Easyjet“.

Falls Ihnen der Begriff „Generation Easyjet“ nicht geläufig ist: Die Firma Easyjet hat ihn erfunden. Er ist aktuell der zentrale Begriff ihres Marketings. Und wenn man liest, welche Werbebotschaft die Firma mit diesem Begriff verbindet, stellt man fest, dass es exakt die Botschaft ist, die der „Tagesspiegel“ in seinem Artikel Easyjet zuschreibt. Das Stück liest sich wie eine redaktionelle Interpretation dieses Mottos.

Der Autor dekliniert sogar die einzelnen Flugziele von Easyjet ab Schönefeld durch:

Ein neuer, niedrigschwelliger Kulturtourismus hat sich entwickelt. Wir alle spielen in einer kulturellen Champions League, und niemand scheidet aus. Im Sommer zur Biennale nach Venedig, nächstes Wochenende zur großen El-Greco-Jubiläumsausstellung nach Madrid und Toledo, nach London in die Tate, auch Manchester, Liverpool und Lyon liegen um die Ecke. (…)

Ein Wochenende in Thessaloniki — der Flug nach Nordgriechenland dauert zwei Stunden — lässt sich preiswerter kalkulieren als ein paar Tage an der Ostsee. Man zahlt nur für den engen Sitz im Flugzeug, mehr Beinfreiheit und ein aufgegebener Koffer sind dann manchmal schon so teuer wie das Ticket selbst. Herrlich ein Drink auf der Dachterrasse des Elektra Palace an der Platia Aristotelous, einem der schönsten Plätze Europas, der sich von der Altstadt zur Meerespromenade hin absenkt!

Oder morgens mal nach Mailand-Malpensa, dann mit dem Mietwagen schnell über die Schweizer Grenze bei Chiasso ins Outletcenter Foxtown und am Abend zurück nach Berlin mit vollen Taschen. Das ist kein Managertag, sondern ein Betriebsausflug von Sekretärinnen.

Robert Ide, der Berlin-Chef des „Tagesspiegels“, schrieb auf Twitter, es handele sich bei dem, was auf mich wie eine vielseitigen PR-Aktion von oder jedenfalls für Easyjet wirkt, um einen „redaktionellen Schwerpunkt zum Massentourismus in Berlin“; das Thema sei „sehr relevant“. Markus Hesselmann, der Online-Chef des „Tagesspiegels“, schrieb auf Facebook, entscheidend für ihn sei bei alldem, „dass die Redaktion von sich aus ihre Themen setzt unabhängig von Werbung“.

Entweder die Zeitung hat sich von dem Unternehmen kaufen lassen. Oder eine komplette Redaktion hat versehentlich eine Werbesonderausgabe für Easyjet produziert.

Rückblick auf die Zukunft: SWR berichtet vorab, wie Live-Sendung war


Foto: SWR/Stephanie Schweigert

In zweieinhalb Stunden wird auf diversen Kanälen des Südwestrundfunks die große SWR3-Grillparty beginnen, und das war super.

Lena Ganschow, die sechs Stunden lang von 13 Uhr live im Fernsehen moderieren wird, hat die Herausforderung prima gemeistert, trotz der Länge und der vielen für sie ungewohnten Elemente, aber ihre Erfahrung durch die Nachmittagssendung „Milch oder Zucker“ „Kaffee oder Tee“ hat ihr sehr geholfen. Und das Spargel-Gulasch fand sie so lecker, dass sie das bestimmt nochmal nachgrillen wird. „Abertausende“ waren bei der Veranstaltung dabei. War rundum eine gute Sache, diese Grill-Party. Die nachher beginnen wird.

Ich weiß das aus Medienmagazin der Nachrichtenwelle SWRinfo. Darin hat der Radio-Moderator mit der Fernseh-Moderatorin darüber gesprochen, wie das alles geklappt hat. „Es war ein neuer, interessanter Schritt für mich“, sagt die Fernsehmoderatorin. „Mit großartigen Erfahrungen gehe ich da raus.“ Nach „so viel Trubel“ ziehe es sie aber erstmal „raus in die Natur“. Und der Radiomann attestiert ihr eilfertig: „Das Spargel-Gulasch, das kann ich bestätigen, das war lecker.“

Sie sprachen vor dem Gegrille, taten aber so, als hätte es schon stattgefunden, denn das Medienmagazin wird erst am kommenden Wochenende im Radio ausgestrahlt. Es steht allerdings heute schon online, so dass der SWRinfo-Slogan „Wir haben die News. Jetzt!“ fast unnötig bescheiden wirkt. „Wir haben die News. Vorab!“ wäre für ein solches Futur-II-Medium, das weiß, wie etwas gewesen sein wird, doch die angemessenere Werbezeile.

Es ist auf vielen Ebenen peinlich (und da lasse ich mal das Event an sich mit Johann Lafer, Maite Kelly, Jürgen Drews, Guido Cantz und anderen Prominenten an den Grill-Geräten weg). Es fängt schon damit an, dass sich ein Medienmagazin in den Dienst der Lobhudelei fürs eigene Programm stellen und die vermeintliche Sensation einer Kombination verschiedener Übertragungswege und einer sechsstündigen Live-Sendung feiern muss.

Und wenn man annimmt, dass es tatsächlich interessant ist, wie das geklappt hat, kann man aber genau diese Frage nicht beantworten, weil man das Gespräch schon vorher aufzeichnet. Das zu tun und es nicht kenntlich zu machen, ist im Radio zwar gang und gäbe, aber trotzdem fast nie eine gute Idee, insbesondere nicht im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, insbesondere nicht bei einem Informationssender.

Sich dabei aber auch noch erwischen zu lassen, indem man die Sendung schon online stellt, wenn das Ereignis, das man nachbetrachtet, noch gar nicht begonnen hat, ist wirklich von ausgesuchter Dämlichkeit. Es sei denn, irgendein SWR-Mitarbeiter fand das ganze Verfahren auch so peinlich, dass er dachte, er macht das dadurch jetzt mal transparent.

[mit Dank an BlueKO für den Hinweis!]

Nachtrag, 14:00 Uhr. Der Beitrag scheint jetzt in der Mediathek gelöscht worden zu sein. Man kann ihn sich aber hier anhören:

[audio:http://www.stefan-niggemeier.de/blog/wp-content/grillparty.mp3]

Nachtrag, 16:50 Uhr. Der SWR entschuldigt sich und bezeichnet eine solche Voraufzeichnung als „journalistisches No-Go“.

Der „Tagesspiegel“ fliegt auf Easyjet

Die Fluggesellschaft Easyjet verkauft täglich auf ihren Routen von und nach Berlin-Schönefeld knapp vier Liter Bier. Das ist eine beachtliche Sache. Zwölf 0,33-Liter-Dosen am Tag! Also: fast. Das zeigt, dass es sich für das Unternehmen wirtschaftlich lohnt, Schönefeld anzufliegen.

Meint der „Tagesspiegel“.

Er hat sich die Bilanz „eigens“ von Easyjet für die eigene Berichterstattung ausrechnen lassen: 14.519 Liter Bier in zehn Jahren, „ab Schönefeld“. (Ich nehme an, der „Tagesspiegel“ meint mit „ab“ Schönefeld „von und nach“ Schönefeld.)

Vor zehn Jahren hat das Unternehmen zum ersten Mal Schönefeld angeflogen, und der „Tagesspiegel“ hat beschlossen, dass das ein Grund zum Feiern ist. „Exakt 285.144.899 Kilometer Strecke haben Easyjet-Gäste seither bis zum Wochenende von und nach Berlin gemeinsam zurückgelegt“, staunt er. Ich weiß nicht genau, wie er das mit dem „gemeinsam“ meint und ob das die Strecken sind, die die Flugzeuge zurückgelegt haben, oder die Strecken multipliziert mit der Zahl der Passagiere. Ohnehin lassen sich Flugkilometer so schlecht in handelsübliche Fußballfelder und Saarländer umrechnen, weshalb der „Tagesspiegel“ als Vergleichsgröße die uns allen im täglichen Leben ja geläufige Entfernung zum Mars anbietet. Den hätte Easyjet jedenfalls angeblich locker erreichen können, wenn die Fluggesellschaft nicht so albern zwischen Berlin und irgendwelchen anderen Städten hin- und hergeflogen wäre, sondern schön am Stück zum Mars.

Weiters hat Easyjet für den „Tagesspiegel“ ausgerechnet, dass in den vergangenen zehn Jahren 31 Millionen Passagiere mit der Linie von oder nach Berlin flogen. Angesichts einer Einwohnerzahl von 3,5 Millionen ist nach Ansicht des „Tagesspiegels“ „statistisch jede Berlinerin und jeder Berliner fast neun Mal mit Easyjet mit Berlin geflogen“.

Es hat angesichts der Qualität des Artikels eine gewisse Konsequenz, dass daraus im Vorspann wird, „jeder neunte“ Berliner sei schon einmal mit Easyjet geflogen, was nicht einmal annähernd dasselbe ist. Aber auch die Ursprungsrechnung stimmte natürlich nur dann, wenn man annähme, dass ausschließlich Berliner von und nach Berlin mit Easyjet fliegen, weshalb ich folgende Alternativrechnung vorschlagen möchte, die mir deutlich sinnvoller erscheint: Wenn man davon ausgeht, dass die Passagiere im Schnitt 1,80 Meter groß sind, und sie hintereinander auf den Boden legt, könnte man die Easyjet-von-und-nach-Schönefeld-Fluggast-Schlange 8,75 1,4 mal um den Erdball wickeln. Gleich viel anschaulicher.

Jedenfalls fliegt seit zehn Jahren eine stattliche Zahl von Menschen (die ganz überwiegend nicht so blöd sind, an Bord teures Bier zu kaufen) mit Easyjet von und nach Berlin, und wenn man Hartmut Mehdorn ist, kann man das mangels anderer Anlässe schon mal als Grund zur Freude nehmen:

„Wir freuen uns über zehn Jahre Easyjet in Berlin und gratulieren herzlich zum Jubiläum“, lässt Berlins stressgeplagter Flughafenchef Hartmut Mehdorn aus diesem Anlass über den Tagesspiegel ausrichten. „Easyjet hat mit dazu beigetragen, das Gesicht der deutschen Hauptstadt noch internationaler zu machen.“

Für eine persönliche Botschaft fehlte dann also anscheinend doch die Muße, aber der „Tagesspiegel“ ist so nett, dem Easyjet die Glückwünsche von Herrn Mehdorn auszurichten, auch wenn offenbleibt, inwiefern es nötig war, damit nun uns als Leser zu behelligen.

Der „Tagesspiegel“ fügt hinzu:

Mehdorns warme Worte sind angebracht. Denn während Air Berlin, die Lufthansa und ihre Tochter Germanwings in Tegel starten und landen und dessen Kapazitäten über die Grenzen treiben, sorgt Easyjet weiter für den nötigen Betrieb am kleineren Standort Schönefeld, der sonst womöglich veröden würde. Waren vor zehn Jahren noch 41 Fluggesellschaften dort vertreten, sind es heute nur noch 25.

Ja, total nett von Easyjet, wobei vielleicht noch ein bisschen aufschlussreicher als die Zahl der Fluggesellschaften die Information gewesen wäre, dass sich in Schönefeld in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Fluggäste mehr als verdoppelt hat. Die Verödung droht also vielleicht doch nicht unmittelbar.

Der Artikel schließt mit dem Gedanken, dass man vor zehn Jahren dem damaligen Easyjet-Chef hätte trauen und Aktien kaufen sollen, dann bekäme man heute nämlich vier mal so viel dafür (und könnte sich, aber das steht da nicht, auch ohne zu zögern alle paar Tausend Flugkilometer das ein oder andere Easyjet-Bier leisten).

Ich weiß nicht, ob der „Tagesspiegel“ für diese Werbe-Geschichte zum Berlin-Anflieg-Jubiläum von Easyjet bezahlt wurde, aber ehrlich gesagt: Ich hoffe es. Einen solchen durch und durch bekloppten Artikel ohne eine entsprechende Entschädigung zu veröffentlichen, wäre ja noch schlimmer.

Und es ist ja nicht die einzige Glückwünsch-Botschaft, die der „Tagesspiegel“ dem Unternehmen schenkt. Parallel veröffentlichte er ein Stück mit dem Titel „Easyjetter fliegen auf Berlin“ und dem Vorspann:

Die erste Easyjet-Maschine landete vor zehn Jahren in Schönefeld. Was keiner ahnte: Am 28. April 2004 begann eine neue Tourismus-Ära. Was treibt Millionen Easyjetter nach Berlin?

Der Artikel erklärt weder, inwiefern eine neue Tourismus-Ära begann, noch was Millionen „Easyjetter“ nach Berlin treibt. Die Autorin war nur „unterwegs an zwei toruristischen (sic!) Hotspots“: Am Brandenburger Tor und in der Simon-Dach-Straße, zwei Orte, die man als Berliner Lokalzeitung der einheimischen Bevölkerung wirklich dringend mal vorstellen musste („Die Simon-Dach-Straße erinnert ein wenig an eine Kirmes“). Um Billigflieger geht es, außer in Überschrift und Vorspann — nicht.

Immerhin aber in einem dritten Stück zum Thema „Zehn Jahre Easyjetter in Berlin“, das sich freut:

Ohne Billigflieger säße so manche Kneipe vermutlich auf dem Trockenen. Denn sogenannte Pubcrawler sichern den Umsatz — und das Einkommen von Stadtführern.

Und so hebe ich mit der „Tagesspiegel“-Redaktion die selbstmitgebrachte Bierflasche in die Höhe und bitte Sie um einen Toast auf Easyjet. Dieses wunderbare Unternehmen, das der Stadt (und, anscheinend, hoffentlich, einer ihrer siechen Regionalzeitungen) so viel Gutes beschert!

[via Simon Drees]

Nachtrag, 23:25 Uhr. Der „Tagesspiegel“ hat unauffällig den „jeder neunte“-Fehler im Vorspann durch den „fast neun Mal“-Quatsch ersetzt.

Nachtrag, 29. April. Markus Hesselmann, der Online-Chef des „Tagesspiegels“, nennt die Texte „ok“ und die Teaser-Fehler „peinlich“ und meint, ich fände den Schleichwerbungsvorwurf offenbar selbst albern.

Heute früh hat der „Tagesspiegel“ noch einen „Easyjet“-Artikel veröffentlicht; es ist (zusammen mit diesem) der fünfte. Der Markenname steht darin zwar nicht sichtbar für Leser, aber als Stichwort für Suchmaschinen.

Die Seelen-Verkäufer von „Spiegel Online“ (3)

Angenommen, ein seriöses Nachrichtenmagazin bringt einen großen Bericht über neue Werbeformen, zeigt, wie heikel die sind, und betont dabei, dass man selbst eine weiße Weste hat: „Werbung, die aussieht wie ein Text der Redaktion, wird es nicht geben.“

Und angenommen, dann kommt raus, dass das gar nicht stimmt.

Würde man dann nicht, als seriöses Nachrichtenmagazin, in der nächsten Ausgabe seine Leser kurz informieren, dass man sie falsch informiert hatte? Gut, natürlich nicht gleich am Anfang, in der „Hausmitteilung“, da steht nur, wie toll das eigene Heft ist. Und natürlich auch nicht ganz am Ende, in der Rubrik „Rückspiegel“, da steht nur, wie toll andere das eigene Heft finden.

Aber vielleicht irgendwo dazwischen, nur eine Notiz, zum Beispiel in dem kleinen „Korrekturen“-Kasten oder auf der Meldungsseite im Medienteil?

Natürlich würde man dadurch Leser, die gar nichts mitgekriegt hatten von dem peinlichen falschen Versprechen — und das wäre womöglich die Mehrheit — überhaupt erst darauf aufmerksam machen. Andererseits würde man denen, die es mitgekriegt haben, zeigen, dass man ein Nachrichtenmagazin ist, dem man trauen kann, sogar wenn es in eigener Sache berichtet.

Wäre das nicht, wenn man es schon nicht hingekriegt hat, in seinem Online-Auftritt Werbung und Redaktion so sauber zu trennen, wie man vorgegeben hat, ein schönes Zeichen, dass man es wenigstens hinkriegt, zu seinen Fehlern zu stehen? Aufrichtig und transparent mit ihnen umzugehen?

Der „Spiegel“ hat diese Fragen offenbar mit Nein beantwortet und so steht im neuen Heft darüber, dass man mindestens ein Jahr lang genau das betrieben hat, was man bei anderen kritisierte und für sich ausschloss: kein Wort.

Aber gut, was sollte die Redaktion auch machen, um über solche Themen mit ihren Lesern ins Gespräch zu kommen? Bloggen?

Die Seelen-Verkäufer von „Spiegel Online“ (2)

Abruptes Ende einer Partnerschaft: „Spiegel Online“ hat die Unterdomain eurojackpot.spiegel.de abgeklemmt, auf der, als „Service von WestLotto“, im redaktionellen Gewand für die Lotterie geworben wurde. Geschäftsführung und Chefredaktion von „Spiegel Online“ erklärten, die Werbung hätte in dieser Form „nicht live gehen dürfen“. Dass dies dennoch geschehen sei, sei ein „Fehler“.

Es war ein erstaunlicher hartnäckiger Fehler. Denn auf diesen Seiten erschienen nicht nur ein paar einzelne Werbe-Kolumnen. Im Laufe eines Jahres wurden hier auch hundert vermeintliche Nachrichtenartikel publiziert, die im Auftrag der staatlichen Lotteriegesellschaft des Landes Nordrhein-Westfalen für das Glücksspiel warben.

Zum Beispiel:

  • Riesige Spannung – Größter Jackpot in Deutschland steigt weiter
  • Überragend: Rekordjackpot von 47 Mio. Euro wartet kommenden Freitag
  • YouTube-Star beschenkt Obdachlosen mit Lotterie-Gewinnerlos
  • Eurojackpot-Reporter beim Eurovision Song Contest
  • Ungarischer Obdachloser gewinnt Lotterie-Jackpot von zwei Millionen Euro
  • Passend zum Valentinstag: Großgewinne über ganz Europa verteilt
  • Britische Lotterie-Millionärin teilt Gewinn mit ihrem Ex-Mann
  • Weihnachtliche Bescherung für drei Eurojackpot-Tipper aus Deutschland
  • Ein Dorf wird Millionär
  • Der große Glücksatlas
  • Wenn halb Europa Lotto spielt
 und am Ende Deutschland gewinnt
  • Kellnerin in den USA erhält Lotterie-Lose als Trinkgeld und gewinnt

„In loser Reihenfolge“ wurden andere Länder vorgestellt, die auch an der Lotterie teilnehmen („Spanien: Beliebtes Reiseziel im sonnigen Süden“); der Unternehmens-Sprecher erklärte, was ein glückliches Leben ausmache und welche Rolle das Glücksspiel dabei spiele („Es ist vor allem der Traum vom Glück, der viele Lotteriespieler antreibt“), neue Forschungsergebnisse wurden mitgeteilt („Glückliche Menschen werden seltener krank“).

All diese vielen Dutzend Artikel, die plump bis halbsubtil für die Lotterie warben, erschienen im redaktionellen Design von „Spiegel Online“, gekennzeichnet bloß als „Service von WestLotto“. Von jeder „Spiegel Online“-Seite führte ein Link am Fuß zur Themenseite mit den jeweils aktuellen Beiträgen.

Und bei „Spiegel Online“ hatte bis eben niemand diesen „Fehler“ bemerkt.

[via Jan in den Kommentaren]

Die Seelen-Verkäufer von „Spiegel Online“

Der „Spiegel“ berichtet in seinem aktuellen Heft über den Trend zu native advertising: Werbung, die gestaltet wird wie ein redaktioneller Artikel und nur durch einen — mehr oder weniger deutlichen — Hinweis als Anzeige gekennzeichnet ist. Das Stück referiert die aktuellen Diskussionen in den Vereinigten Staaten und Deutschland und zeigt, wie heikel solche Formen für die Glaubwürdigkeit seriöser Medien ist.

Mit „native advertising“ erreicht die bewusste Irreführung der Leser eine neue Qualität: Sie wird zu einem gängigen Stilmittel der Werbung, vor allem im Netz. Dort lassen sich Inhalt und Reklame deutlich einfacher und billiger verbinden als in gedruckten Medien.

Das Nachrichtenmagazin zitiert den „Guardian“-Kolumnisten Bob Garfield:

„Der Journalismus verkauft damit seine Seele.“

Der „Spiegel“ zieht darin für sich selbst eine klare Grenze:

Werbung, die aussieht wie ein Text der Redaktion, wird es nicht geben.

In einem Video zum Heft erklärt Medienredakteur Martin U. Müller, einer der beiden Autoren des Textes, dass man Anzeigen bei „Spiegel Online“ selbstverständlich klar von redaktionellen Inhalten unterscheiden könne, durch Gestaltung, Schriftart, Farbgebung und so weiter. Andere Seiten sähen das nicht so eng, sagt er, und führt den Zuschauer durch verschiedene Beispiele, bei „Werben & Verkaufen“ und der „Huffington Post“, wo nur ein leicht zu überlesener Hinweis wie „Sponsored Post“ über dem Text deutlich mache, dass die Inhalte gekauft wurden.

Nun.

Dann sagen Sie doch mal spontan, wonach diese regelmäßige Kolumne über das Glück auf „Spiegel Online“ aussieht:

Die Schriftart ist die Standard-Schriftart von „Spiegel Online“. Die Farben sind die des Panorama-Ressorts. Und oben in der Brotkrumen-Navigation ist der Text säuberlich in die redaktionelle Hierarchie einsortiert: Nachrichten > Panorama > Eurojackpot

Der Autor Oliver Schönfeld schaut aus einem Guckloch wie die anderen Kolumnisten von „Spiegel Online“. Und er wird ausdrücklich als „Journalist“ vorgestellt. Dabei nennt sich seine Firma „Schönfeld PR“, und er ist eher nicht journalistisch tätig, sondern werblich. Die Artikel sind anscheinend von WestLotto bezahlt. Das lässt die Formulierung „Ein Service von WestLotto“ auch erahnen, aber eben doch nur: erahnen.

Um den „Spiegel“ selbst zu zitieren:

Die verbalen Verrenkungen, mit denen sich viele Verlage um das Wort „Werbung“ herumdrücken, lässt an ihrem Bemühen um Transparenz zumindest zweifeln.

Unter der vermeintlichen Glücks-Kolumne steht zwar auch als Kleingedrucktes der Satz:

SPIEGEL ONLINE ist weder für den Inhalt noch für ggf. angebotene Produkte verantwortlich.

Aber das ändert nichts daran, dass die Gestaltung der Anzeige erkennbar auf die Möglichkeit einer Verwechslung mit redaktionellen Inhalten abzielt.

Das Wort „Anzeige“ oder „Werbung“ vermeidet „Spiegel Online“ auch bei dem Kasten, der am Fuß jeder Seite steht:

Ein „Serviceangebot“ von einem „Spiegel Online“-„Partner“, was mag das sein? Unter dieser Überschrift sind munter redaktionelle und werbliche Inhalte sowie Kooperationen, bei denen völlig unklar ist, ob und wie „Spiegel Online“ daran verdient, gemischt. Vor dem Klick hat der Leser keine Chance, es zu erraten. Oder hätten Sie gedacht, dass der „Kreditvergleich“-Link ein Werbelink ist, der „Versicherungen“-Link aber ein redaktioneller?

Ich halte das an sich schon für eine schlechte Idee von „Spiegel Online“. Besonders schlecht ist aber, wenn der „Spiegel“ den Eindruck erweckt, „Seelen-Verkäufer“, das sind nur die anderen.

Nachtrag, 22. April. Es gibt doch eine Möglichkeit, vor dem Klick auf einen der Links in dem „Serviceangebot“-Kasten zu wissen, ob er zu Werbung oder einem redaktionellen Inhalt führt: Wenn man den Mauszeiger über dem jeweiligen Stichwort schweben lässt, erscheint nach etwa einer Sekunde das Wort „Anzeige“ (oder nicht).

Nachtrag, 12:30 Uhr. „Spiegel Online“ hat die Werbe-Kolumne als „Fehler“ bezeichnet. Barbara Hans, die stellvertretende Chefredakteurin, sagte gegenüber „Meedia“, die Anzeige unterscheide sich „nicht eindeutig und klar genug von redaktionellen Inhalten. Insbesondere sind Begriffe wie ‚Kolumne‘ und ‚Journalist‘ sowie die optische Anmutung im Kolumnen-Layout dem redaktionellen Bereich von Spiegel Online vorbehalten.“

Der Link zur „Eurojackpot“-Unterseite ist im „Service“-Mischkasten und im „Panorama“-Menu nun verschwunden.

Unter Schafen

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Endloser Regen, twitternde Schäfer und die „passiv-subversivsten Tiere diesseits des Esels“: Wie die Herdwicks den Lake District im Nordwesten von England prägen.

Der Schäfer drückt mir das Lamm in die Hand, damit ich den Unterschied fühlen kann. Es ist mit einem dunklen, dicken, dichten Lockenmantel auf die Welt gekommen. Robust fühlt es sich an. Kein Vergleich zu dem hellen, dünnen, weichen Flaum auf der Haut des Standard-Lämmchens, das er daneben hält.

Das wenige Tage alte Schaf, das ich auf dem Arm habe, ist ein Herdwick, ausgestattet mit dem vielleicht besten Wetterschutz, den die Natur für kleine Lämmer zu bieten hat, gemacht für eine Umgebung, in der es im Zweifel immer gerade regnet.

Lake District heißt diese Gegend ganz im Nordwesten von England. Sie könnte auch Rain District heißen. In einem ihrer Täler liegt der regenreichste Ort Englands. Vor einem Pub dort hängt eine Gedenktafel: „In liebender Erinnerung an einen sonnigen Tag in Borrowdale.“ Im Süßigkeitenladen in Keswick bieten sie neben Schokoladenhasen und Schokoladenküken Schokoladenregenschirme an. Und die Verkäuferin im Fish-and-Chips-Geschäft in Windermere erzählt, dass es eigentlich immer regnet, nur manchmal woanders auch, dann verteilt sich das schlechte Wetter etwas mehr, so dass es hier nicht ganz so schlimm ist.

Es hat etwas merkwürdig angemessenes, hier im Nieselregen an den weißgetünchten alten Höfen vorbeizulaufen, Weiden, die zu Sumpflandschaften geworden sind, zu durchqueren, tosende Wasserströme zu kreuzen und über moosbewachsene Steinmauern zu klettern. Es ist kein Ort für Schönwetterwanderer, überall sind auch im Regen Menschen unter zugezurrten Kapuzen unterwegs. Doch dann pustet der Wind plötzlich die Wolken weg und mit einem Mal ist im Sonnenschein alles tiefgesättigte Farbe: das Blau der Seen, das Grün der Wiesen, erstaunliches Rot, Braun, Gelb, Ocker auf den baumlosen Berghängen.

Ein Traum, der das Schroffe schottischer Gebirge mit der Lieblichkeit südenglischer Hügellandschaften aufs Romantischste kombiniert.

Es ist eine Landschaft, die von den Schafen geprägt wurde, und es sind Schafe, die von der Landschaft geprägt wurden. Seit Jahrhunderten grasen Herdwicks hier auf den Bergkuppen, harren in Wind und Regen aus. Sie sind unabhängig und hart im Nehmen, und auch wenn die Theorie, dass die Wikinger sie vor tausend Jahren in diese Gegend gebracht haben, unbewiesen ist, will man das sofort glauben: Dass es legendär furchtlose Krieger waren, die solch toughen Haustiere mitbrachten. Es gibt Geschichten von Herdwicks, die wochenlang unter Schnee überlebten. Als man sie fand, sollen sie blind gewesen sein und ihre eigene Wolle gefressen haben – aber sie erholten sich.

Sie sind, andererseits, sehr niedlich, und es ist kein Wunder, dass sich die Kinderbuchautorin Beatrix Potter in sie verliebte. Sie wirken wie Schafe in Reinform, reduziert auf das Wesentliche und als wären sie von oder für Kinderbuchillustratoren entwickelt worden: Zwei Knopfaugen im glatten, hellen Gesicht; Mund und Nase wie genäht; eine großer, rechteckiger Flauschkörper in vielfältig grauen Marmorfarben auf stämmigen Beinstummeln. Kopf und Beine sollen im Idealfall die Farbe von Raureif haben.

Sie sehen so sympathisch und perfekt schafhaft aus, wenn sie ihre weißen Köpfe aus dem Gras nehmen und für einen Moment aufhören zu kauen: Stoisch schauen sie einen an, nicht unfreundlich, aber nur mit gerade so viel Interesse, wie unbedingt nötig ist, um abzuschätzen, ob es ratsam sein könnte, ein paar Meter weiterzuschlurfen, um ungestört weiter an der dünnen Grasnarbe knabbern zu können. Ihre Gesichter leuchten hell in der Landschaft, was es zu einem besonderen Erlebnis macht, wenn der Wanderweg durch eine Wiese führt und man plötzlich Dutzende Herdwick-Köpfe auf einen gerichtet sieht.

Sie waren eigentlich aus der Mode gekommen, keine Rasse für einen modernen Schäfer, und auch der Mann, der heute als „Herdwick Shepherd“ über sie twittert, hätte sich vor gut zehn Jahren noch nicht vorstellen können, ausgerechnet Herdwicks zu züchten. Aber dann kam die Maul- und Klauenseuche, die im Lake District besonders verheerend war. Und Schäfer-Familien wie seine stellten sich nach dieser Apokalypse die Frage, unter welchen Bedingungen es sich überhaupt lohnen könnte, noch Schafe zu halten.

Die Herdwicks boten eine Antwort, weil sie so verhältnismäßig wenig menschliche Aufmerksamkeit und Unterstützung brauchen. Aber wenn der Herdy Shepherd – der nicht möchte, dass man seinen richtigen Namen nennt – heute von seinen Herdwicks erzählt, tut er das mit einer Leidenschaft für genau diese Tiere, die nichts mit wirtschaftlicher Notwendigkeit zu tun hat.

Er bekommt ein Leuchten in den Augen, wenn man ihn anspricht auf das eine Schaf unten im Feld vor seinem Hof, das schon zwei Lämmer bei sich hat. Es ist eins von denen, die er seine „Schönheitsköniginnen“ nennt. Sie hat schon Routine im jährlichen Lauf der Dinge hier und weiß, dass um die Ecke eine Wiese ist, die in den vergangenen Wochen schaffrei gehalten wurde, damit sie und die anderen Mütter dort reichlich Gras finden würden.

In ein paar Wochen wird sie dann über uralte Wege mit den anderen dorthin gehen, wo sie eigentlich zuhause sind. Der Schäfer zeigt in die Ferne auf eine der Bergkuppen, die hier „fell“ heißen und auf denen man Mitte April noch größere Schneeflecken sieht. Die ersten Tiere, die ohne Nachwuchs, sind jetzt schon da, es folgen dann Mütter mit nur einem Lamm und schließlich die Familien mit Zwillingen.

Dort oben auf den Bergen ist traditionell offenes Gemeinschaftsland, Commons, Allmende – die größte Fläche in Europa. Die Herdwicks können sich weit ausbreiten, was sie weniger anfällig für Krankheiten macht. Und sie wissen, wo sie hingehören. Sie haben einen Flecken Erde, an den sie sich gebunden fühlen; die Muttertiere geben das Wissen an ihren Nachwuchs weiter.

Traditionell gehören die Schafe hier deshalb zu den Höfen: Wenn dessen Mieter wechselt, übernimmt er die Tiere. Herdwicks sind die Brieftauben unter den Schafen: Sie haben einen besonders ausgeprägten Heimfindeinstinkt – und einen Drang, zu „ihrem“ Berg zurückzukehren. Zu den Geschichten des Lake Districts gehören die von kleinen Schaftrupps, die beim Durchqueren von Ortschaften angetroffen werden, nachdem sie sich eigenmächtig auf dem Weg dahin zurück gemacht haben, wo sie ihrer Meinung nach hingehören. Manche sollen ein halbes Jahr, nachdem sie verkauft wurden, auf ihrem Ursprungs-Hang wieder aufgetaucht sein, Dutzende Kilometer entfernt.

Philip Walling, der in dem Buch „Counting Sheep“ die Hirten-Kultur Großbritanniens würdigt, nennt die Herdwicks „die passiv-subversivsten halb-domestizierten Tiere diesseits des Esels“: „Wenn sie in einem Feld glücklich sind, bleiben sie da, aber immer nur aus freien Stücken. Ihr Ur-Drang nach Freiheit ist nie weit unter der Oberfläche. Wie Kriegsgefangene lauern sie auf die kleinste Gelegenheit zum Ausbruch und behalten beim Grasen das Gatter im Auge, für den Fall, dass es jemand offen lässt.“

In diesen Tagen sind sie aber überwiegend damit beschäftigt, Lämmer zur Welt zu bringen. 500 Tiere hat der Herdy Shepherd; für Problemfälle hat er eine kleine Entbindungsstation in seinem Stall eingerichtet. Die besten Lämmer sind pechschwarz, mit etwas weißem Flaum an den Ohrenspitzen sowie im Nacken, als erste Andeutung dessen, was später einmal eine eindrucksvolle Mähne sein soll.

Stolz zeigt der Herdy Shepherd Fotos von seinen preisgekrönten Böcken und erzählt, wie wichtig es ihm ist, den Respekt der alten Schäfer zu erwerben, deren Tradition er fortzuführen versucht. Solche Vorzeige-Zuchttiere lassen sich auch deutlich teurer verkaufen, was hilft, das mühsame Geschäft ein bisschen wirtschaftlicher zu machen.

Seit kurzem wird viel daran gearbeitet, die Wertschätzung für die Herdwicks und die mit ihnen verbundene landwirtschaftliche Kultur zu steigern. Es gibt Herdy-Tassen, Schlüsselanhänger und Eierbecher. Prinz Charles hat vor zwei Wochen die erste Versteigerung von Herdwick-Schafen mit einem eigenen Qualitäts-Markenzeichen besucht.

Twitter hilft vielleicht auch. Über 25.000 Menschen folgen @herdyshepherd1 auf Twitter. Er teilt mit ihnen Fotos von Lämmern, erzählt Geschichten von schweren Geburten und Schäferhund-Lehrlingen und beantwortet Fragen wie: „Habt ihr ein Problem mit Wölfen?“ („Nicht seit 1750, seit jemand den letzten in Großbritannien erschossen hat.“)

Medien auf der ganzen Welt haben über ihn berichtet. In einem Gastbeitrag für den „Atlantic“ schrieb er: „Twittern ist so etwas wie ein Akt des Widerstandes und des Trotzes, eine Möglichkeit, der manchmal desinteressierten Welt entgegenzurufen, dass man dickköpfig ist und stolz und nicht nachgibt, während überall sonst in eine Kopie von überall sonst verwandelt wird.“ Die Leute aus der Landwirtschaft seien traditionell schlecht darin, der Öffentlichkeit ihre Sicht der Dinge zu vermitteln, erzählt er, was sich oft räche.

Vergangene Woche postete er Bilder von der ersten Runde Herdwicks, die in diesem Jahr zurück auf ihre angestammten Berge geführt wurden. Und dann ein Foto von Floss, der Schäferhündin, nach der Arbeit auf dem Quad-Bike, mit weitem Blick über die Hügel. „Floss mag die Landschaft“, twitterte er. „Oder vielleicht sieht sie in der Ferne irgendwelche entkommenden Schafe, die ich nicht sehe.“

Nicht jedem wird bei diesem Anblick warm ums Herz. Der Umweltschützer und „Guardian“-Kolumnist George Monbiot findet die Landschaft „eine der deprimierendsten in Europa“ und nennt sie „sheepwrecked“ – zerstört von der „weißen Plage“ der Schafe, die die Berge nackt halten, „jede essbare Pflanze, die ihren Kopf hebt, abmähen, und Tiere ihres Lebensraumes berauben“.

Monbiot kämpft dafür, die Landschaft zu „renaturieren“ und sie in einen Zustand zu versetzen, in dem sie seit Jahrhunderten nicht war. Vermutlich muss man es vor dem Hintergrund solcher Kritiker lesen, wenn der Herdy Shepherd zwischendurch vier Tweets lang aufzählt, welcher Artenvielfalt von Tieren er bei der Arbeit begegnet ist.

Die britische Regierung hat beschlossen, den Lake District 2016 für die Unesco-Welterbe-Liste vorzuschlagen – als herausragende Kulturlandschaft. Das soll natürlich dem Tourismus dienen. Aber es wäre auch eine besondere Anerkennung für die besonderen kulturellen und landwirtschaftlichen Traditionen, die diese Landschaft geformt haben. Also auch und vor allem: für die Herdwicks.

Man sagt über sie, sie lebten „von frischer Luft, sauberem Wasser und guter Aussicht“. Aber ein bisschen Liebe kann vermutlich nicht schaden.

Flausch am Sonntag (62)




Im Lake District, ganz im Nordwesten Englands, leben die tollsten Schafe: Herdwicks. Sie sind außerordentlich selbstständig, robust und hart im Nehmen, so dass man sofort die These glauben will, dass die Wikinger sie vor tausend Jahren hierhin mitgebracht haben. Und andererseits sind sie hinreißend niedlich mit ihren Knopfaugen im glatten, raureiffarbenen Gesicht und dem zotteligen marmorfarbenen Flauschkörper — als wären sie von oder für Kinderbuchillustratoren entwickelt worden.

Ich war vor zehn Tagen dort und habe es auch geschafft, den @HerdyShepherd1 zu treffen. Mein Bericht (und eine Art Liebeserklärung an diese Schafe) steht heute in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.

Der Fotograf Ian Lawson hat ein Buch gemacht mit grandiosen Bildern von der Landschaft und den Tieren, die sie geprägt haben (und umgekehrt). Durch viele Seiten kann man sich hier blättern:

Flauschige Ostern!

Über Kai Diekmann

Kai Diekmann, der von Fachmedien seit einiger Zeit als lustiger, selbstironischer und eloquenter Mensch mit Bart behandelte Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, hat mit einer Wortmeldung auf Twitter auf meinen Spott über die Ukraine-Berichterstattung seiner Zeitung reagiert: