Schlagwort: Spiegel Online

Spiel, Spaß, Spannung, „Spiegel Online“

Sie sind Aufregungs-Junkies bei „Spiegel Online“, süchtig nach Spannung. Sie sind inzwischen sehr gut darin geworden, sich den Stoff zu besorgen, und können ihn notfalls auch selbst erzeugen. Wenn sich zwei Streithähne versöhnt haben, beginnt für „Spiegel Online“ schon die Frage, wie lange das Bündnis wohl halten wird; im Moment des höchsten Triumphes schreibt „Spiegel Online“ immer schon den bevorstehenden Abstieg herbei, um neue Spannung zu produzieren.

Sie haben dadurch regelmäßig das Problem, dass sie feststellen müssen, dass ein mit Spannung erwartetes Ereignis, wenn es endlich eintritt, gar keine Überraschung mehr ist, was in der „Spiegel Online“-Welt automatisch gegen das Ereignis spricht. Und noch schlimmer: Es gibt Gelegenheiten und Vorkommnisse, aus denen sich beim besten Willen keine Spannung generieren lässt.

Am vergangenen Freitag hat der Fernsehrat des ZDF einen neuen Intendanten gewählt. Es gab nur einen Kandidaten, Thomas Bellut, ein Mann, dessen Karriere rückblickend so aussieht, als steuerte sie seit 200 Jahren auf diesen Punkt hin. Er wurde, wie erwartet, mit großer Mehrheit gewählt.

Nun kann man an dieser Wahl und ihren Umständen einiges kritisieren: fehlende Alternativen, Debatten, Transparenz. Ich glaube allerdings nicht, dass das ZDF es den Gebührenzahlern / den Journalisten / mir schuldet, dass die Wahl seines Intendanten „spannend“ ist.

„Spiegel Online“ schon. Dort nimmt man die bösartige Spannungslosigkeit persönlich.

„Zäh, zäher, ZDF“, überschreibt „Spiegel Online“ den Artikel, was insofern ein bisschen irreführend ist, als die ganze Sache relativ schnell über die Bühne ging. Aber worum es dem Autor geht, steht dann gleich in den ersten Worten des Vorspanns:

Spannung geht anders: Mit einem geradezu sowjetischen Ergebnis von 96 Prozent wurde Noch-Programmdirektor Thomas Bellut zum neuen ZDF-Intendanten gewählt.

Das Thema dieses Artikels ist nur scheinbar die Wahl des Intendanten. In Wahrheit ist es die fehlende Spannung.

Gelegentlich hat es den Anschein, das ZDF sei angetreten, in eine neue Sphäre der Langeweile vorzustoßen. „Volle Kanne – Service täglich“ mit Renovierungstipps und Biowetter, gefolgt von der 178. Folge der Telenovela „Lena – Liebe meines Lebens“, in der die Titelheldin und ihr Lover David ihre Hochzeit „in den buntesten Farben“ planen, wie es in der Ankündigung heißt. Das waren so die Sendungen, die liefen, als der für dieses Programm Verantwortliche, Programmdirektor Thomas Bellut, zum künftigen Intendanten gewählt wurde.

Ich weiß nicht, was da am Freitagvormittag im ZDF hätte laufen können, was den strengen Spannungs-Anforderungen eines „Spiegel Online“-Redakteurs hätte genügen können, aber es ist ja eh nur ein rhetorischer Kniff. Selbst wenn bei „Volle Kanne“ an diesem Tag der Handwerker beim Renovierungstippsgeben von der Leiter gefallen oder diese Lena sich ein sensationelles Dialog-Duell mit ihrem David geliefert hätte — der Autor wüsste es eh nicht.

Selbst dem Konferenzraum, in dem die Pressekonferenz stattfand, wirft er vor, nicht aufregend gewesen zu sein:

Das Spannendste an dem Ort ist, dass hier vor etwas über einem Jahr eine Räuberbande ein Pokerturnier überfiel.

Er hat sich dann offenbar entschlossen, seinen Frust über das Fehlen von Spannung an uns, den Lesern, auszulassen, und mit langweiligen Details der Langeweile zu langweilen:

Schächter, 61, ist seit neun Jahren als Intendant so etwas wie der oberste Langweiler des ZDF. Vor ihm liegt jetzt sein iPad in einer schwarzen Lederhülle auf der grauen Tischdecke. (…) Sein iPad bleibt ausgeschaltet.

Vor Bellut, 56, randlose Brille, liegt nur ein silberner Plastikkugelschreiber vom ZDF, mit dem er herumhantiert, und eine Plastikmappe mit ein paar Zetteln.

Vielleicht hätten sie beim ZDF, sobald sie ahnten, dass die Intendanten-Wahl so glatt über die Bühne gehen würde, wenigstens das Fernsehballett einladen können oder gefährliche Tiere oder Lady Gaga, und zwar am besten ohne Anlass, damit „Spiegel Online“ aufgeregt „Überraschung bei der Intendantenwahl“ titeln könnte.

Am Ende schafft es der Autor dann aber doch noch, sich ein kleines Stückchen Spannung zu schnitzen:

Ob es wirklich klappt mit dem harmonischen Führungswechsel? Zwar arbeiten Noch-Intendant Schächter und Bald-Intendant Bellut schon lange zusammen. Doch dass Schächter nicht mehr der allerinteressanteste Gesprächspartner ist, zeigt sich beim Ende der Verkündungspressekonferenz. Während Bellut Interviews geben, in Mikrofone und Kameras sprechen muss, kann der Kollege in Ruhe telefonieren.

Dass die Journalisten sich nach der Wahl mehr für den neuen Intendanten interessieren als für den, der seit neun Jahren amtiert, soll ein Indiz dafür sein, dass sich Schächter und Bellut in den nächsten Monaten nach Jahren harmonischer Zusammenarbeit noch in die Haare kriegen? Das kann selbst „Spiegel Online“ nicht ernst meinen. Das ist nur die Sucht, die da spricht.

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Die Ansprüche, die „Spiegel Online“ an die Welt hat, sind dramaturgischer, nicht inhaltlicher Natur. Es ist aber für die Berichterstattung keineswegs zwingend gut, wenn sie erfüllt werden.

Beispielhaft ist ein Artikel über das Fernsehduell vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg im Frühling. Die Wahl erfüllte, anders als die beim ZDF am Freitag, das wichtigste Kriterium „Spannung“ und die Berichterstatterin fasste schon im Vorspann das Wichtigste über die Diskussion zusammen:

Sieger? Keiner von beiden — die Wahl bleibt spannend bis zum letzten Moment.

Was ist die wichtigste Frage, auf die sich die Menschen nach einem solchen Fernsehduell eine Antwort von „Spiegel Online“ erwarten? Richtig: „Bleibt es spannend?“ Die Autorin holte dann aber — vermutlich aus Spannungsgründen — erst einmal aus, um noch einmal gründlich den Stand der Spannung zu definieren:

Wenn im baden-württembergischen Wahlkampf derzeit an einer Sache kein Mangel herrscht, dann ist es Spannung. Seit Wochen liegen die Lager der schwarz-gelben Regierungskoalition und der rot-grünen Opposition nahezu gleich auf. Seit Wochen liefern sie sich in Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Wird Stefan Mappus als der CDU-Ministerpräsident mit der kürzesten Amtszeit in die Geschichte des Landes eingehen? Können die einst so blasse Südwest-SPD und die erstarkten Grünen erstmals nach 58 Jahren im Ländle das politische Ruder übernehmen? Schafft es die Linke in den Landtag?

Die Spitzenkandidaten von CDU und SPD könnten gegensätzlicher kaum sein. Stefan Mappus gegen Nils Schmid: Bauch- gegen Kopf-Mensch. Der eine hat mit dem Image des Polterers zu kämpfen, der andere mit dem des netten Schwiegersohns. Der eine kommt mit seiner Partei von ganz oben, der andere von ganz unten.

Ja, nein, um Inhalte scheint es nicht zu gehen, bei so einer Wahl. Aber ist es nicht toll, wie viele spannende Äußerlichkeiten und oberflächliche Gegensätze es gibt?

Falls sich Wähler von dem Duell am Mittwochabend im SWR-Fernsehen erhofft hatten, dass es einen klaren Favoriten hervorbringen könnte, wurden sie enttäuscht.

Sekunde. Die Autorin glaubt ernsthaft, Wähler würden sich eine solche Sendung ansehen, um sich hinterher darauf einigen zu können, wer die Wahl vermutlich gewinnen wird? Ein klarer Fall von Projektion. Jedenfalls:

(…) Denn Mappus und Schmid lieferten sich einen Schlagabtausch auf Augenhöhe, der vor allem eines deutlich machte: Es bleibt spannend.

Das ist tatsächlich das ernsthafte Ergebnis, das „Spiegel Online“ aus dem Streitgespräch mitgenommen hat. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie sich in der Redaktion aufgeregt die Nachricht zugerufen haben: „Hast du das Wahlduell gestern gesehen?“ — „Klar!“ — „Und? Bleibt es spannend?“ — „Ja, bleibt spannend.“ — „Geil.“

Aber kommen wir zu den politischen Inhalten:

Dabei ging der erste Punkt des Abends, bevor überhaupt die roten Lampen der Kameras aufblinkten, klar an den jungen Herausforderer — und seine attraktive Frau Tülay. Denn während Nils Schmid mit seiner Gattin in staatsmännischer Manier für die Fotografen posierte und alle dargebotenen Hände schüttelte, traf Stefan Mappus, unbeachtet von den meisten Journalisten, allein, angespannt und leise, im Studio ein.

Gut, okay. Aber kommen wir nun zu den politischen Inhalten:

Vor den Kameras begann dann ein Diskurs wie aus dem Lehrbuch der Fernsehduelle: In weiten Teilen fachlich, selbst bei emotionalen Themen sachlich. Hart aber fair, und das ganze auf Schwäbisch. Sogar der ein oder andere kleine Patzer — etwa als Mappus seinen Kontrahenten Schmid im Eifer des Gefechts mit „Schmiedel“ ansprach, so heißt der SPD-Fraktionschef im Stuttgarter Landtag — taugte da nicht zum Lacher.

Haha, „Schmiedel“. Die Autorin lässt sich dann aber doch noch dazu hinreißen, knapp zu referieren, worüber so gesprochen wurde. Höhepunkt der Analyse:

Während Mappus Boden gut machen konnte, in dem er auf die gute Bildungsbilanz des Landes verwies, bei den Stichworten „Leistung muss sich lohnen“ und Länderfinanzausgleich klare Kante zeigte, verstand Schmid es, mit seinen Konzepten in Sachen Ganztagsbetreuung und herkunftsunabhängiger Schulpolitik Migranten ebenso anzusprechen wie die „am besten qualifizierte Frauengeneration unserer Geschichte“.

Halten wir das kurz fest: Mappus zeigte beim Stichwort Länderfinanzausgleich klare Kante. Damit ist vermutlich alles gesagt.

Fazit?

Wenn etwas inhaltlich gefehlt hat, bei diesem Duell in Stuttgart, dann war es höchstens der Auftritt von Winfried Kretschmann, der Spitzenkandidat der baden-württembergischen Grünen.

„Inhaltlich“? Das meint sie nicht so. Nächster Satz:

Denn es ist auch in erster Linie seine Partei, die diesen Wahlkampf derzeit so spannend macht.

Eben.

· · ·

Als in der vergangenen Woche bekannt wurde, dass Aiman al-Sawahiri Nachfolger von Osama bin Laden ist, fand „Spiegel Online“ eine Eigenschaft des neuen al-Qaida-Führers herausragend: Er sei „dröge“, hieß es schon im Vorspann. Es las sich fast, als schwinge da auch Empörung darüber mit, dass man sich heutzutage nicht einmal mehr auf Terrororganisationen verlassen kann, Entscheidungen zu treffen, die spannend genug sind für „Spiegel Online“.

Super-Symbolfoto (84)

Dieser Fehler hat tatsächlich Symbolwert. Das, was da auf dem iPhone zu sehen ist, ist nämlich nicht die Verlagsseiten-mordende „Tagesschau“-App, sondern die aus irgendwelchen Gründen ungleich ungefährlichere Internetseite tagesschau.de.

(Die Meldung von „Spiegel Online“ ist übrigens eine Agenturmeldung von dpa, die über einen Inhalt aus dem gedruckten „Spiegel“ informiert. Bestimmt ist das auf irgendeiner Ebene journalistisch, arbeitsökonomisch oder markentechnisch sinnvoll.)

[mit Dank an PD!]

Nachtrag, 13.00 Uhr. Auch der gedruckte „Spiegel“ weiß nicht, wie die „Tagesschau“-App aussieht.

[via Altpapier; hier im Bild die Version aus der „Spiegel“-App]

Spökes, Späßchen, Spiegel Online

Neulich erschien auf „Spiegel Online“ ein Artikel über die Spieler-Transfers in der Bundesliga. Es ging, wenn ich es richtig verstanden habe, darum, dass die Vereine irgendwie bislang gespart haben, was aber nicht unbedingt etwas zu sagen hat; dass noch Geld da ist, das irgendwann weg sein könnte, aber noch nicht so bald; und um den Trend, dass daraus kein Trend abzulesen sei.

Es muss die Hölle gewesen sein, dafür eine Überschrift zu finden. Man kann ja nicht „Irgendwas mit Geld“ oder etwas ähnlich Sinnloses über den Text schreiben.

Natürlich kann man. Es müssen nur genügend Silben mit demselben Buchstaben anfangen. Bitte schön:

Bundesliga-Transfers / Magie des Pinkepinke-Plans

Bei „Spiegel Online“ wird sie noch gepflegt, die alte journalistische Untugend des Überschriften-Stabreims. Mit diesem Eintrag möchte ich dem unbekannten Alliteraten in der Redaktion ein Denkmal setzen.

Die einfachste Form der Überschriften-Alliteration ist die Aufzählung. Man reihe mindestens zwei, besser drei Begriffe aneinander. Die einzelnen Wörter können etwas miteinander zu tun haben, müssen es aber nicht. Auch schmucklosesten Wortkombinationen verleiht der gemeinsame Anfangsbuchstabe billigen Glanz:

Reaktionen auf Volksentscheid / Begeistert, beflügelt, bedröppelt

Geht auch bei ernsten Themen:

Taliban-Offensive nahe Kabul / Herausfordern, hinrichten, herrschen

Schön ist, wenn nicht nur die Anfangslaute stimmen, sondern auch die Zahl der Silben harmoniert und einen schönen Rhythmus ergibt:

Namibia-Fotoblog / Flieger, Forscher und Flamingos

Das ist weniger wichtig, je ungewöhnlicher die verwendeten Wörter sind:

Punks im Comic / Siff, Suff und Selbstauflösung

Ein fehlendes drittes Wort derselben Gattung ist kein Grund zur Verzweiflung:

San Fermin in Pamplona / Wein, Weib und wilde Stiere

Je mehr Wörter mit dem selben Anfangsbuchstaben aneinander gereiht werden können, umso geringer sind die Ansprüche an irgendeinen Sinn der Kombination:

Englands 1:4-Pleite / Rage, Rooney und die Radikal-Rasur

Bonuspunkte gibt es für aufwändige Alliterationsarrangements, die die Dachzeile einbeziehen:

Kriselnde Kanzlerin / Angezählt, allein, aufrecht

Im folgenden Beispiel darf man deshalb davon ausgehen, dass der Stabreimer vom Dienst es verfluchte, dass Frau Cole mit Vornamen nicht Caroline, Christine oder wenigstens Karla heißt:

Cheryl Coles Kollaps / Reiselust, Romantik, Riesenaufregung

Winiwalistisch wirkt hingegen dieses Kleinod:

Weltnaturerbe Wattenmeer / Wiege des Wurms

Wenn ein Geräusch „rätselhaft“ ist, kann es kein Knall sein:

Alarm auf Supertanker / Rätselhafter Rumms auf hoher See

Und wenn es Streit um einen „Hitzestau“ gibt, kann das kein Durcheinander sein:

Bahn-Streit mit ZDF / Hickhack im Hitzestau

Als Alternative zum klassischen Dreiklang bietet sich das Doppelpaar an:

Mexikos Drogenkrieg / Tödlicher Terror im Reich des Rauschs
DVD-Filmbeileger / Scharfe Schwerter, windige Weihnachtsmänner
Gerüchte über Sarkozys Ehekrise / Power-Paar im Tratsch-Tsunami
FDP-Generalsekretär Lindner / Diener, Denker, Liberalen-Lenker
WM-Bilanz / Rasen auf dem Rasen, Pfeifen an den Pfeifen

Das Wort „Stabreim“ geht übrigens auf Snorri Sturluson (1178-1241), den Verfasser der Snorra-Edda (Prosa-Edda oder auch Jüngere Edda) zurück, aber das wussten Sie sicher.

Neonazi-Schutz für Kitas / Bastion gegen braune Brut
Trainer in der Bundesliga / Dominanz der Dauerdirigenten
Zeitlupen-Diskussion / Fandels Fabel-Forderungen
Videogame-Pianist Nuss /
'Final Fantasy' für Feingeister

Sie merken schon, mir fällt dazu nichts mehr ein. Dafür habe ich die Alliterationen hier unten wenigstens alphabetisch sortiert.

Familie und Beruf / Karrierekiller Kind
Comics aus China / Knallbunter Kitsch gegen Kadertreue
EM-Bilanz von Barcelona / Leichtathleten lieben den Löw-Effekt

Kennen Sie die Sendungsreihe „Mumien, Monstren, Mutationen“, die früher im Nord-Dritten lief?

Von der Leyens Hartz-IV-Reform / Meisterprüfung für Merkels Musterministerin
Neuer Truppenchef in Afghanistan / Petraeus predigt permanenten Kampf
Taschenbuch-Bestseller / Preußen, Prunk und Prostitution
Küstenlandschaft in Brasilien / Wind, Wasser, Wunderwelt

Das selbsterklärte Standardwerk „Stilistik für Journalisten“ nennt die Alliteration „eines der reizvollsten Stilmittel“, warnt aber auch (konkret im Zusammenhang mit einer Fünffach-Alliteration), dass ein „Zuviel nicht nur gewollt oder verkrampft, sondern eher parodistisch“ wirkt — schon anhand der Kolumnentitel lässt sich erkennen, dass „Spiegel Online“ gerne bereit ist, diese Risiko in Kauf zu nehmen (falls man nicht realistischerweise bereits vom Verlust von Hopfen und Malz ausgeht):

Achilles' Verse / Rechnen am Riegel-Regal

(Hajo Schumacher nennt sich für seine Lauf-Kolumne Achim Achilles. Sie können sich selbst einen Reim drauf machen, müssen es aber nicht.)

Ganz unumstritten scheint die Alliteratitis auch redaktionsintern allerdings nicht zu sein. In mehreren Fällen ist die Überschrift nachträglich geändert und der Stabreim entfernt worden. Dieses Stück, das jetzt den Titel „Apollo Edgar“ trägt, hatte ursprünglich die Überschrift:

Tante, Transrapid, Transferleistungsempfänger

Wolf Schneider sagt: Wer reimt, opfert fast immer Sinn und stellt die Form über den Inhalt. Und irgendeine Frau hat in irgendeiner Studienarbeit über Überschriften in deutschen und italienischen Zeitungen geschrieben: „Fast scheint die Alliteration als die einfachste kreative Variante und immer einsetzbare Titel-Idee, um noch schnell ein bisschen Witz in den Text zu bringen.“ (Leider disqualifiziert sie sich als Sprach-Expertin mit dem Unfall im nächsten Satz: „Als ob dem stressgeplagten Journalisten, selbst wenn ihm kurz vor Redaktionsschluss gar nichts mehr einfällt, er diese Art von spielerischer Kreativität immer noch aus dem Ärmel zaubern kann.“)

All denen, die im Alliterationswahn von „Spiegel Online“ keinen Beweis von Kreativität, sondern von Schmerzfreiheit sehen, wird es die Redaktion noch zeigen. Spätestens, wenn es eine ihrer Überschriften geschafft hat, ins Allgemeingut überzugehen und eine zeitgemäße Alternative zu Brautkleid, Blaukraut und Fischers Fritz zu werden:

Belastungsprobe für Europas Institute / Stresstest stresst spanische Sparkassen

Nachtrag, 11. August. Zwei tapfere Menschen haben hier schon länger die Gaga-Gags aus den „Spiegel Online“-Überschriften gesammelt — ich habe daraus noch ein paar schöne Stabreimbeispiele oben ergänzt.

Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten

Heute lernen wir etwas über die Kriterien professioneller Medien bei der Nachrichtenauswahl. Und über als Journalismus getarnten Lobbyismus in eigener Sache.

Vor zwei Monaten hatte die FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin eine Idee, wie sich die Welle der hysterischen Berichterstattung über eine geplante iPhone-Anwendung von tagesschau.de noch weiter verlängern ließ — und sie auf ihr reiten könnte: Sie stellte eine parlamentarische Anfrage an die EU-Kommission, ob sie in dieser Sache „Handlungsbedarf“ sehe.

Die Medien, von denen einige wie „Spiegel Online“ und „Bild“ ohnehin längst publizistische Kampagnen gegen die ungeliebte neue Konkurrenz im Netz führten, nahmen die Vorlage begeistert auf.

„Bild“, 18.2.2010:

FDP bringt das „Tagesschau“-App vor EU-Kommission

Brüssel – Neuer Wirbel um das geplante „Tagesschau“-App der ARD. Auf Antrag der Vizepräsidentin des Europa-Parlaments, Silvana Koch-Mehrin (FDP), prüft jetzt die EU-Kommission, ob die umstrittene Internetanwendung fürs Handy gegen EU-Recht verstößt.

In einer Beschwerde bei EU-Kommissarin Neelie Kroes moniert Koch-Mehrin, die ARD könne einen solchen Dienst „offensichtlich nur deswegen kostenlos bereitstellen, weil sie durch obligatorische Rundfunkgebühren finanziert wird“. Dagegen müssten private Anbieter „ein solches Angebot kostenpflichtig machen“.

Aus ihrer Sicht nutze „die ARD ihr staatlich garantiertes Recht auf ein hohes Gebührenaufkommen aus, um sich gegenüber privaten Konkurrenten einen nicht gerechtfertigten Vorteil zu verschaffen“, so Koch-Mehrin. (…)

ddp, 18.02.2010:

FDP bringt „Tagesschau“-App vor EU-Kommission

Brüssel/Berlin (ddp). Neuer Wirbel um die geplante «Tagesschau»-Applikation (App) der ARD. Auf Antrag der Vizepräsidentin des Europa-Parlaments, Silvana Koch-Mehrin (FDP), prüft die EU-Kommission, ob die Internetanwendung fürs Handy gegen EU-Recht verstößt, schreibt die „Bild“-Zeitung (Donnerstagausabe). (…)

dpa, 18.2.2010:

FDP kritisiert iPhone-Pläne der ARD

Brüssel (dpa) – Die FDP warnt bei einer von der ARD geplanten Anwendung für das iPhone vor Wettbewerbsverzerrungen. In einer Anfrage der FDP-Europaabgeordneten Silvana Koch-Mehrin an EU- Medienkommissarin Neelie Kroes hieß es, die ARD wolle ein kostenloses „App“ für iPhone-Nutzer zur Verfügung stellen, für das private Anbieter Kosten erheben müssten. Kroes solle klären, ob dies gegen die EU-Wettbewerbs- und Binnenmarktregeln verstoße.

„Die ARD kann dieses Angebot offensichtlich nur deswegen kostenlos bereitstellen, weil sie durch obligatorische Rundfunkgebühren finanziert wird“, hieß es zudem in einem persönlichen Schreiben Koch-Mehrins an Kroes, das am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur dpa vorlag. Auch die „Bild“-Zeitung hatte davon berichtet.

Die EU-Kommission muss innerhalb von drei Wochen antworten, oder eine Verzögerung begründen. (…)

„Der Westen“, 18.2.2010:

FDP schwärzt ARD wegen Tagesschau-App bei der EU an

„Meedia“, 18.2.2010:

Der ARD bläst in Sachen Tagesschau-App der Wind aus allen Richtungen ins Gesicht. Jetzt schaltet sich auch die Politik in die heftig umstrittene Debatte über Online-Kompetenzen der Öffentlich-Rechtlichen ein. Nach Informationen der Bild-Zeitung hat die FDP-Politikerin und Vizepräsidentin des Europaparlaments Silvana Koch-Mehrin einen Antrag bei der EU-Kommission durchgesetzt, wonach geprüft werde, ob die mobile Online-Expansion der Nachrichtensendung mit europäischem Recht vereinbar ist. (…)

„Spiegel Online“, 18.2.2010:

FDP-Politikerin schaltet EU-Kommission ein

„Berliner Zeitung“, 19.2.2010:

Jetzt eben auch Silvana Koch-Mehrin. In der hitzigen Debatte über den Digitalisierungsdrang des gebührenfinanzierten Rundfunks hat sich gestern die Europa-Abgeordnete der FDP zu Wort gemeldet. Die Politikerin rief die EU-Kommission an, um von höchster Stelle prüfen zu lassen, ob die „Tagesschau“ mit einer eigenen Anwendung (App) auf internetfähigen Mobiltelefonen wie dem iPhone unterwegs sein darf, wie sie es von diesem Frühjahr an nach eigenem Bekunden tun will. (…)

„Tagesspiegel“, 19.2.2010:

„Tagesschau“-App fürs iPhone beschäftigt EU-Kommission

Der Streit um die geplante iPhone-Anwendung von tagesschau.de beschäftigt auch die Europäische Union. Silvana Koch-Mehrin, FDP-Abgeordnete und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, will von der Kommission prüfen lassen, ob eine Wettbewerbsverzerrung vorliegt. (…)

„RP-Online“, 21.2.2010:

(…) Verleger mit eigenen Nachrichtenangeboten im Netz warnen seit Monaten vor einer Wettbewerbsverzerrung durch einen unbeschränkt agierenden Online-Auftritt der „Tagesschau“, der sich aus Rundfunkgebühren finanziert. Mit den ARD-Vorhaben, eine kostenlose Variante von tagesschau.de speziell für das iPhone von Apple bereitzustellen, beschäftigt sich dem [„Focus“] zufolge inzwischen auch EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia. (…)

„Der Spiegel“, 22.2.2010:

(…) Die bisher nur angekündigte „Tagesschau“-App beschäftigt indes auch die Politik. Die FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin hat bei der EU-Kommission eine Prüfung des ARD-Angebots gefordert. (…)

„Der Focus“, 22.2.2010:

(…) Währenddessen beschäftigt sich auch die EU-Kommission in Brüssel mit den Internet-Aktivitäten der „Tagesschau“. Dabei geht es um das ARD-Vorhaben, eine kostenlose Variante von tagesschau.de speziell für das iPhone von Apple bereitzustellen, einer sogenannten App. Die FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin hatte in einem Brief an EU-Medienkommissarin Neelie Kroes vor Wettbewerbsverzerrung durch diese App gewarnt.

Kroes‘ Behörde hat den Fall inzwischen an den neuen EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia weitergereicht, der drei Wochen Zeit für die Prüfung hat.

(„Welt Online“ kopierte übrigens einfach die Meldung aus ihrem Schwesterblatt „Bild“ fast wörtlich und ergänzte sie um den sachdienlichen Hinweis: „Die kostenpflichtigen iphone-Apps von WELT und ‚Bild‘ sind seit ihrem Start im Dezember schon von mehr als 100.000 Nutzern gekauft und herunter geladen worden. Neueinsteiger können die WELTApp für 1,59 Euro einen Monat lang testen.“ Dazu stellte „Welt Online“ eine 16-teilige Bildergalerie mit Fotos von dem eigenen Angebot und Informationen wie: „Willkommen in der WELTApp. So haben Sie noch nie mobil gesurft.“)

Vor gut einer Woche bekam Frau Koch-Mehrin Antwort auf ihre Fragen. Sie fiel vernichtend aus. Wettbewerbskommissar Almunia schrieb ihr, dass die EU-Kommission keinen Anlass sieht, gegen die geplante App vorzugehen. Grundsätzlich sei es zulässig, mithilfe von Rundfunkgebühren neue Verbreitungsplattformen wie das iPhone zu erschließen. Ob die geplanten Dienste die Bedingungen dafür erfüllen, werde vorab im Drei-Stufen-Test geprüft, der aber „nur für tatsächlich ’neue‘ und ‚relevante‘ Dienste durchgeführt“ werden müsse. Für Beschwerden, was den Ablauf dieses Verfahrens angehe, sei die EU-Kommission nicht zuständig, erklärte der Kommissar der FDP-Politikerin. Das sei Sache der Bundesländer.

Almunias Antwort trägt das Datum vom 8. April. Eine Woche später, am vergangenen Donnerstag, veröffentlichte die ARD eine Erklärung, in der sie die „Zurückweisung“ der Anfrage Koch-Mehrins begrüße. Am selben Tag berichtete die Nachrichtenagentur epd über die Antwort der EU-Kommission und die Genugtuung der ARD.

Und so haben die oben zitierten Online- und Print-Medien, Boulevardzeitungen und Nachrichtenagenturen, Fach-Medien und Nachrichtenmagazine über diesen Ausgang der Sache berichtet, deren Anfang sie so eifrig begleiteten:

 

 

 

 

 

 

 

 

(Vollständige Übersicht.)

„Eilmeldung“


Ich fürchte, ich könnte es den Kollegen von „Spiegel Online“ in ihrem Dauerzustand professioneller Atemlosigkeit nicht einmal erklären, was daran so abstoßend ist, die aufgeregt präsentierten Meldungen über den Tod von Robert Enke noch unter dem Banner „Eilmeldung“ zu verkaufen.

(Die Variante, die die Konkurrenz von stern.de gewählt hat, müssen Sie sich in Originalgröße ansehen, um die passende Eigenanzeige ganz oben lesen zu können.)

„Sprachlosigkeit“ ist das Wort, das Journalisten seit gestern immer wieder gebrauchen, um die Reaktionen auf den Tod zu beschreiben, und während sie reden und reden, merken sie gar nicht, dass das eigentlich eine angemessene Reaktion ist: Sprachlosigkeit. Man muss sich, zum Beispiel, das Gespräch im „heute journal“ gestern ansehen, in dem der Reporter Boris Büchler im Studio beschreibt, dass alle trauernden Menschen, die er noch am Abend angerufen hatte, trauern und viele davon sogar so sehr, dass sie gar nicht ans Telefon gegangen seien, um mit ihm darüber zu reden.

Marietta Slomka wusste, dass Robert Enke „vom Pech verfolgt“ war, und Boris Büchler wusste, dass er ein Ausnahmefußballer war, weil er Musicals mochte und lesen konnte und mental so stark war, also, jedenfalls, schien. Für die Sender der Pro-Sieben-Sat.1-Gruppe musste ein Reporter den ganzen Morgen vor dem Hotel der DFB-Mannschaft stehen und im Minutentakt erzählen, dass sich immer noch keiner habe blicken lassen, aber alle geschockt seien und trauerten.

Die Kollegen von „11 Freunde“ haben vor der Aufgabe, über Enkes Tod zu „informieren“, nach eigenen Worten „kapituliert“. Wenige Stunden später wich die Fassungslosigkeit der Empörung:

Diese Art von enthemmtem Journalismus legitimiert sich gern selbst durch die vermeintliche Pflicht, informieren zu müssen. Doch wie kann diese Information an einem solchen Abend aussehen? Archive werden durchwühlt, Formkrisen und Schicksalsschläge des Robert Enke bilden Resonanzräume, in die man gierig hinein lauscht. Gerüchte werden zu Fakten, Hypothesen zu Erklärungen. Aus der scherenschnittartigen Charakteristik der öffentlichen Person, die Robert Enke war, werden Diagnosen für eine private Person konstruiert, von der niemand, der sich daran beteiligt, behaupten kann, dass er sie kannte.

Mutmaßungen sind hier nichts als Anmaßungen. Niemand weiß, was in Robert Enke vorging.

Und noch einmal: Wer will es wissen? Und wen geht es an?

Der blanke Wahn

Levi Johnston, der uneheliche Vater des Enkelsohns der ehemaligen Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin, wird sich möglicherweise für ein amerikanisches Erotikportal ausziehen und hat einen Werbefilm für Pistazien gedreht.

Das ist die Nachricht, und die Menschen in den führenden deutschen Online-Boulevardredaktionen, also bei sueddeutsche.de, „RP-Online“ und „Spiegel Online“, die diese Information heute auf den Tisch bekommen haben mit dem Auftrag, daraus einen klickträchtigen Artikel zu machen, haben vermutlich unser Mitleid verdient. Sie haben sich bestimmt auch etwas anderes unter Journalismus vorgestellt, als das tägliche Aufplustern solcher Nichtigkeiten durch rituelles Interpretieren und Halluzinieren.

Da geht’s ihnen wie mir.

Und die Sache mit Johnston ist in der Zusammenballung von Vergangenheits- und Möglichkeitsformen nun besonders anspruchsvoll, schließlich ist er der Nicht-mehr-noch-nicht-Schwiegersohn der Nicht-mehr-Gouverneurin und Noch-nicht-Präsidentschaftskandidatin, genau genommen sind beide im Moment also ungefähr nichts.

„Spiegel Online“ vorspannt:

Neue Peinlichkeiten aus dem angeblich so sittenstrengen Palin-Clan: Der frühere Schwiegersohn-Aspirant der zurückgetretenen Gouverneurin will sich unbedingt für das Magazin „Playgirl“ entkleiden. Doch bis dahin wirbt Levi Johnston erst einmal für Nüsse.

Die dezente Andeutung eines Hodenwitzes gibt Pluspunkte in der B-Note, aber Johnston „Sittenstrenge“ zu unterstellen, ist allein der Notwendigkeit geschuldet, einen Pseudo-Kontrast zu konstruieren, ebenso wie der Gaga-Satz, mit dem der Artikel beginnt: „Besonders zurückhaltend waren die Palins ja noch nie (…).“ Nicht?

Die Fallhöhe der Geschichte schrumpft auf mikroskopische Größenordnungen, wenn man dann liest, dass Johnston sich für ein Männermagazin schon einmal halb ausgezogen hatte, was dem großen deutschen Nachrichtenportal tatsächlich auch damals schon eine Meldung wert war. Überschrift, jawohl: „Palins Beinah-Schwiegersohn posiert ohne Hemd“.

Es stellt sich weiter heraus, dass „Spiegel Online“ das Magazin „Playgirl“, das Johnston vielleicht nackt zeigen wird, für ein „Heft“ hält, dabei erscheinen die nackten Jungs längst nur noch online.

Das konnte der diensthabenden Kollegin von sueddeutsche.de nicht passieren, die offenbar „Playgirl“ bei Wikipedia nachgeschlagen hat, dort das eindrucksvolle Adjektiv „pornographisch“ fand sowie ein paar weitere Informationen über die vermutete Leserschaft, was dringend benötigtes Material zum Skandalisieren dieser ganz und gar egalen Geschichte darstellte:

Ob Johnston, Vater eines gemeinsamen Kindes mit der 18-Jährigen Bristol Palin, weiß, was mit dem Fotoshooting auf ihn zukommt? Er selbst gab zu, er habe noch nie einen Blick in das Magazin geworfen. Mit den Inhalten kenne er sich trotzdem aus: Dem Daily Telegraph sagte er, er nähme an, es gehe um Typen, die für Frauen posieren. Dass das Playgirl eine große homosexuelle Fangemeinde hat, ist ihm offenbar nicht klar.

Ui. Nicht-mehr-Gouverneurinnen-nicht-mehr-noch-nicht-Schwiegersohn posiert für Schwule! Na, das wäre ja, also, das wäre ja was. Der sueddeutsche.de-Artikel beginnt übrigens so:

Ein Glück, dass der Wahlkampf ums amerikanische Präsidentenamt längst vorbei ist – noch vor einem Jahr hätte das, was sich gerade im Palin-Clan tut, für Riesenwirbel gesorgt: Levi Johnston, der Beinahe-Schwiegersohn der konservativen Ex-Gouverneurin von Alaska, will blank ziehen.

Der erste Satz ist schön: Da erfährt man sogar, unter welchen Umständen die Nicht-Nachricht, die sueddeutsche.de als Nachricht bringt, eine Nachricht gewesen wäre. Aber wenn Sie mir bitte auf einen kleinen Exkurs folgen würden:

Ich weiß nicht, ob es eine Altersfrage ist, aber ich kriege Pickel, wenn ich die Formulierung „blank ziehen“ höre, jedenfalls außerhalb ihres natürlichen Lebensraumes gelallter Sätze wie: „Kuckma, die geile Schlampe zieht blank!“ Wie hat es dieser Begriff geschafft, erst seine alte Bedeutung vom Zücken des Schwertes zu verlieren und dann von der Prollsprache aus die Welt der seriösen Medien wie sueddeutsche.de zu erobern?

Ich glaube, was ich an der Verwendung so eklig finde, ist die merkwürdige Kombination aus Geilheit und Prüderie, die er ausdrückt, dieses völlig abwegige Erstaunen darüber, dass jemand in der Öffentlichkeit oder sogar für die Öffentlichkeit intimere Bereiche seines Körpers entblößt. Jeder dieser Akte scheint heute mit einem Staunen gefeiert zu werden, als fände die Diskussion vor 40 Jahren statt und als wäre es heute möglich, mittags Programme wie RTL oder Pro Sieben einzuschalten, ohne dass einem nackte Brüste entgegenkugelten. Aber egal, wie allgegenwärtig nackte Frauen heute sind — in der „Bild“-Redaktion kann eine prominente Brustwarze, die für den Bruchteil einer Sekunde viertelenthüllt war und dabei fotografiert wurde, immer noch ganze Orgasmuskaskaden auslösen. Ich schweife ab.

Denn da sind ja noch meine Freunde von „RP-Online“. Für die ist das mit dem Nacktausziehen nicht ganz so schockierend wie für die Kollegen, denn immerhin hat der junge Mann ja schon für Pistazien geworben:

Damit ist es aber noch nicht genug: Johnston wirbt seit einigen Tagen in einem Werbespot für Pistazien. Im vergangenen Jahr hatte der 19-Jährige seine sittenstrenge Schwiegermutter in spe im Präsidentschaftswahlkampf in Bedrängnis gebracht, als er Palins Tochter schwängerte. [Über diesen Satz und den Gebrauch des Wortes „schwängern“ könnte ich ähnlich lange und fruchtlose Exkurse schreiben wie über das „blank ziehen“, aber glauben Sie mir: Das wollen Sie nicht lesen.]

In dem kurzen Spot wird jetzt genau darauf angespielt: Während Johnston genüßlich an seinen Pistazien knuspert, und hysterische Fans nach ihm schreien, hört man aus dem Off: „Jetzt macht es Levi Johnston mit Schutz.“ Damit hat der junge Mann schon eine Schmerzgrenze überschritten. Die Nacktbilder für „Playgirl“ dürften ihm damit nicht mehr schwer fallen.

Ist die Logik nicht toll? Und dieser rührende Gedanke, dass diesem versehentlich in die Öffentlichkeit geratenen jungen Mann sonst das Ausziehen, mutmaßlich für Geld, „schwer fallen“ könnte?

(Falls Sie übrigens das mit dem „Schutz“ nicht verstehen, könnte das daran liegen, dass weder „RP-Online“ noch „Spiegel Online“ erwähnen, dass in dem Film neben Johnston ein Bodybuilderguard steht, was für das Verständnis nicht ganz unwesentlich wäre, wenn nicht alles in dieser Geschichte unwesentlich wäre.)

Aber die Doofen von „RP-Online“ haben ja nicht einmal verstanden, dass Johnston das alles nicht zuletzt tut, um Palin und ihre Familie zu ärgern, weil er sich von der Mutter seines Kindes Ende vergangenen Jahres getrennt hat. Das können sie auch nicht verstehen, weil sie von dieser Trennung, die nun wirklich eine Art Nachricht war, nicht wissen und stattdessen fantasieren:

Düsseldorf (RPO). Politisch ist von der US-Republikanerin Sarah Palin nicht mehr viel zu hören. An bunten Geschichten um die ehemalige Gouverneurin von Alaska mangelt aber dennoch nicht. Jetzt will sich ihr zukünftiger Schwiegersohn für das Magazin „Playgirl“ ausziehen.

Sollte sich Sarah Palin tatsächlich auf eine Präsidenschaftskandidatur im Jahr 2012 vorbereiten, dürften ihr diese Schlagzeilen überhaupt nicht gefallen. Ausgerechnet ihr zukünftiger Schwiegersohn, Levi Johnston, will sich für Nacktaufnahmen ausziehen, die demnächst in dem US-Magazin „Playgirl“ erscheinen könnten.

Bitte fragen Sie mich nicht, warum ich das alles aufgeschrieben habe. Irgendwie hatte sich nach dem Urlaub diese Hornhautschicht noch nicht wieder gebildet, die mich sonst gelegentlich davor schützt, mich auf den blanken Wahnsinn des deutschen Online-Journalismus einzulassen.

Nachtrag, 9. Oktober, 13:30 Uhr. „RP-Online“ hat den Text unauffällig teilkorrigiert, hält aber aus irgendwelchen Gründen an der Formulierung „Schwiegersohn in spe“ fest.

Nicht ernstlich

KURIOSE GESETZESTEXTE. 3. Teil: Nicht sparen mit dem Wort "nicht". Auch mit dem Wörtchen "nicht" sparen die Gesetzgeber nicht. So arbeitet § 118 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) mit dem Prinzip der doppelten Verneinung: "Eine nicht ernstlich gemeinte Willenserklärung, die in der Erwartung abgegeben wird, es werde nicht verkannt werden, dass sie nicht ernstlich gemeint war, ist nicht wirksam."

Lustige Geschichte. Kleiner Haken:

§ 118 Mangel der Ernstlichkeit. Eine nicht ernstlich gemeinte Willenserklärung, die in der Erwartung abgegeben wird, der Mangel der Ernstlichkeit werde nicht verkannt werden, ist nichtig.

(Ausrufe wie: WO SOLL DAS HINFÜHREN, WENN DIE BOULEVARDMEDIEN JETZT SCHON MIT DER RUFSCHÄDIGUNG VON GESETZEN ANFANGEN? nach Belieben einfügen oder weglassen.)

[eingesandt von Oliver García]

Super-Symbolfotos (62)

Hö, werden Sie jetzt vielleicht fragen, was ist denn daran ein Symbolfoto? Das ist doch Miley Cyrus und womöglich stammt die Aufnahme sogar vom Tag nach kleines Mädchen.

Warten Sie, bis Sie den zugehörigen Bildtext gelesen haben:

In einer Pose wie dieser ließ sich Miley Cyrus für "Vanity Fair" von der Fotografin Annie Leibovitz ablichten.

Ist das nicht fantastisch? Üblicherweise stellen Symbolfotos abstrakte oder generische Begriffe dar oder Dinge, von denen es keine Aufnahme gibt. Dieses Symbolfoto aber symbolisiert ein anderes Foto: dieses hier.

Das ist einerseits bahnbrechend, andererseits mutlos. Konsequent wäre es natürlich gewesen, wenn der diensthabende Bildergalerienbefüller von „Spiegel Online“ zugunsten einer möglichst genauen Reproduktion der Pose auf die Posierende verzichtet hätte. Vielleicht lässt sich das ja nachträglich korrigieren — ich bin sicher, Lukas würde seinen Rücken zur Verfügung stellen.

Denn sieh, das Schlechte liegt so nah!

In einem langen, girlandenreichen Artikel empört sich Willi Winkler heute in der „Süddeutschen Zeitung“ darüber, dass der Spiegel-Verlag online „altnazistische Rechtfertigungsliteratur“ verkaufe. Es geht um das Buch „Denn der Hass stirbt…“, die Memoiren von Léon Degrelle, dem Gründer der faschistischen Rexisten Belgiens, SS-Standartenführer und unverbesserlichen Nationalsozialisten.

Und, Tatsache:

Winkler schreibt und schäumt, verweist auf „Spiegel“-Artikel, die Degrelle und sein Umfeld unmissverständlich charakterisieren, und fragt: „Wie kommt es nur, dass der ‚Spiegel‘-Leser mehr weiß als der Verlag des Magazins“, der den Shop anbietet?

Gute Frage. Apropos:

Na sowas. Davon steht gar nichts in der „Süddeutschen“.

„Spiegel Online“ zickt entsprechend zurück und verweist darauf, dass man — wie die Konkurrenz — mit dem Großbuchhändler Libri kooperiere und dessen Sortiment einfach in den eigenen Shop übernehme. Dass darunter auch Bücher seien, die man eigentlich nicht anbieten wolle, sei „leider nicht zu umgehen“.

Nicht? Es wäre ganz leicht zu umgehen. Man müsste bloß aufhörern, auf irgendwelche Inhalte, die nicht die eigenen sind und über die man keine Kontrolle hat, das eigene Logo zu kleben, um kurzfristig noch den letzten Cent abzugreifen — egal, was das langfristig für den Wert eben dieses Logos bedeutet.

Nachtrag, der Vollständigkeit halber: Dasselbe Buch gibt’s natürlich auch im FAZ.net-Buchshop.

Nachtrag, 14. Mai. Die „Süddeutsche“ meldet heute „In eigener Sache“:

Die Süddeutsche Zeitung hat auf ihrer Medien-Seite am Mittwoch unter der Überschrift „Klick ins Schnäppchen-Reich“ darüber berichtet, dass der Spiegel-Verlag mit dem Buchhandels-Grossisten Libri kooperiert und deshalb über die Homepage www.spiegel.de auch Bücher von „Nazi-Helden“ erhältlich sind. So seien dort unter anderem Léon Degrelles Denn der Hass stirbt… oder Schriften von Hans-Ulrich Rudel oder Hanna Reitsch zu kaufen. Unerwähnt blieb in dem Artikel, dass das Geschäftsmodell des Spiegel-Shops auch in anderen Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen üblich ist, unter anderem im Süddeutschen Verlag. So sind die Bücher Degrelles, Rudels oder Reitschs auch im Internet-Shop der SZ oder über einen Link dorthin auf der Homepage der Süddeutschen Zeitung (www.sueddeutsche.de) erhältlich, ebenso wie in Buchhandlungen oder im Versandhandel. Die Redaktion bedauert, dass der Hinweis auf den SZ-Shop in der Berichterstattung fehlte.

Nachtrag, 15. Mai. Den Original-Artikel von Willi Winkler hat sueddeutsche.de ohne Erklärung gelöscht. Auf den Unterseiten ihres Jugendmagazins „jetzt“ hat die „Süddeutsche Zeitung“ ihn dagegen — unkorrigiert, natürlich — belassen. Das sind echte Internet-Profis, die da arbeiten. (via Ralf Schwartz)