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Journalismus im Dienst der Angst

Ach, wie mutig sie ursprünglich sein wollten in Köln; ein Zeichen wollten sie setzen. Beim Rosenmontagszug in zwei Wochen sollte es einen Wagen geben, der sich mit dem Terroranschlag auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ auseinandersetzt. Eine Skizze des Wagens kursierte schon länger. Sie zeigt einen Clown, der seinen Bleistift in die Mündung einer Schusswaffe rammt; der Terrorist dahinter schaut doof aus seiner Sturmhaube, während ihm Idefix auf den Schuh pinkelt. Und hinter dem Clown steht: „Pressefreiheit! Meinungsfreiheit!“

Motiv-Skizze des Charlie-Wagens beim Kölner Rosenmontagszug

Das Motiv ist nicht sonderlich provokativ, nicht mal besonders kreativ nach allem, was man in den vergangenen Wochen an Karikaturen zu diesem Thema gesehen hat. Dem Festkomitee Kölner Karneval ist es nun aber plötzlich doch zu heikel. Am Mittwochabend beschlossen die Organisatoren ganz überraschend, dass es den geplanten Wagen doch nicht geben wird:

Wir möchten, dass alle Besucher, Bürger und Teilnehmer des Kölner Rosenmontagszuges befreit und ohne Sorgen einen fröhlichen Karneval erleben. Einen Persiflagewagen, der die Freiheit und leichte Art des Karnevals einschränkt, möchten wir nicht.

Das muss man sich kurz auf der Zunge zergehen lassen: Ein Festwagen, der für Presse- und Meinungsfreiheit steht, wird zurückgezogen, weil er – angeblich – die „Freiheit und Leichtigkeit des Karnevals“ einschränkt. Das ist nicht nur für sich genommen eine denkwürdige Begründung, sie ist noch mal kurioser, wenn man die Genese dieses Wagens kennt. Das Festkomitee hatte kürzlich erst mit viel Tamtam über das Motiv abstimmen lassen, auf Facebook. 14 Entwürfe standen zur Auswahl. Und dieser, der mit dem Clown, gewann den Wettbewerb. Die Reaktionen waren, laut Festkomitee, überwiegend positiv:

Wir sind sehr dankbar über die zahlreichen Rückmeldungen der Menschen zu dem geplanten Wagen. In den sozialen Netzwerken und in den Medien wurde das Thema des geplanten Wagenbaus vielfach diskutiert. Zudem haben uns in den letzten Tagen zahlreiche Rückmeldungen per Email und auf dem Postweg erreicht. Viele Menschen stimmen uns zu und bekräftigen das Vorhaben, ein Zeichen zu setzen.

Viele Menschen stimmten also zu. Es waren sogar Islamwissenschaftler an der Berwertung der Motive beteiligt, damit keine religiösen Gefühle verletzt werden. Lediglich „einige Rückmeldungen“ besorgter Bürger habe es gegeben, „die wir sehr ernst nehmen“, schreibt das Festkomitee. Sonst aber betonen die Organisatoren, wie sehr sie zu dem Motiv stehen, wie unbedenklich und gleichzeitig wichtig es sei, so als Signal, und dass es auch seitens derer keine Bedenken gegeben habe, die für die Sicherheit des Umzugs zuständig sind:

Nach Auskunft hochrangiger Vertreter der Polizei und weiterer Behörden gegenüber dem Festkomitee besteht und bestand keinerlei Risiko für den Kölner Rosenmontagszug, weder für Teilnehmer noch für Besucher – auch ausdrücklich nicht wegen des Charlie-Hebdo-Wagens.

Kein Risiko also. Keine Bedenken. Aber gottseidank kann man sich, wenn gerade mal keine Panik herrscht, darauf verlassen, dass irgendwelche Medien Panik erzeugen, zum Beispiel der „Kölner Stadtanzeiger“, der gestern, noch vor dem Rückzug des Wagens, titelte:

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Die Überschrift ist bemerkenswert, wenn man den Text darunter liest, in dem eher entwarnt wird. Dort sagt zum Beispiel der Kölner Polizeisprecher, dass es „keinerlei Hinweise auf eine konkrete Gefahr“ gebe, und dass man sich zum Sicherheitskonzept des Umzuges (aus gutem Grund) nicht äußere.

Aber das ist dem „Stadtanzeiger“ natürlich wurscht.

Aus einer ungenannten Quelle will die Zeitung „erfahren“ haben, dass der Wagen „unauffällig von getarnten Beamten eines Spezialeinsatzkommandos (SEK)“ begleitet werden soll, worüber sich die getarnten, unauffälligen Beamten sicher gefreut haben, dass das nun auffällig in der Zeitung stand. Zumal es nicht mal etwas Besonderes ist, wie der Leiter des Umzugs der Zeitung sagt: Der Rosenmonatszug sei ein Millionenevent, bei dem „in jedem Jahr“ Polizei dabei sei, zumindest „seit in der Session 2009 ein Wagen mitrollte, der sich mit dem US-Gefangenenlager Guantanamo beschäftigte“.

Dass der Umzug beschützt wird, ist also offenbar Usus. Dennoch verkauft der „Stadtanzeiger“ das als besondere Neuigkeit. Und auch der „Express“ jazzte die Sache mit dem angeblichen Polizeischutz hoch. Auch hier sagt der Polizeisprecher, dass er nichts sagt, dass es aber auch keine Bedenken gebe. Und wieder taucht irgendeine anonyme Quelle auf, dieses Mal „ein ranghoher Beamter“, der darüber plaudert, wie der Wagen angeblich vor Terroristen geschützt werden solle. Dabei dementiert das Festkomitee ausdrücklich, dass überhaupt irgendein einzelner Wagen besonders geschützt werden sollte:

Dies wurde heute in verschiedenen Medien falsch dargestellt und verursachte somit Verunsicherung bei einigen Lesern.

Und noch etwas stand im „Kölner Stadtanzeiger“ und im „Express“, was das Festkomitee nun dementiert:

In den Medien wurde heute publiziert, dass Gruppen oder Karnevalsgesellschaften gegenüber dem Festkomitee Ängste geäußert hätten, vor oder hinter dem geplanten „Charlie-Hebdo-Wagen“ zu gehen. Auch das ist schlichtweg falsch. Gegenüber dem Festkomitee wurden solche Ängste nicht kommuniziert. Dies war bis heute nicht der Fall.

Es waren also offenbar alle, von vereinzelten besorgten Bürgern mal abgesehen, ganz ruhig und besonnen, da die Lage und der harmlose Wagen ja nach Auskunft der Behörden unbedenklich waren – bis bei diversen Medien die Panikmaschine ansprang, auch bei den so genannten Regionalnachrichten von Sat.1, wo schon die Anmoderation karnevalesk doof ist:

Feiern, Trinken, Lachen – der Kölner Rosenmontagszug steht ja vor allem für eins: für Spaß und Halli Galli. Aber jetzt bekommt diese heile Welt einen Riss. Der Charlie-Hebdo-Wagen, der an die tödlichen Anschläge in Paris erinnern soll, soll nämlich wohl sogar vom SEK begleitet werden – aus Angst vor einem möglichen Islamisten-Attentat. Mit welchem Gefühl wir also dieses Jahr Karneval feiern können (…)

Und wie krampfhaft Sat.1 anschließend im Beitrag versucht, ein Gefühl von Angst heraufzubeschwören! Was aber dummerweise kaum jemand bestätigen möchte. Der Polizeisprecher (wieder) nicht. Das Festkomitee (auch wieder) nicht. Und auch die obligatorische Straßenumfrage liefert nicht das, was sich Sat.1 wohl gewünscht hätte. Eine Frau sagt, dass sie zwar ein mulmiges Gefühl habe in Menschenmengen, dass sie das aber nicht vom Feiern abhalte. Eine andere Frau sagt ungefähr dasselbe: Eine gewisse Angst, joah, aber trotzdem müsse man mitmachen, Spaß am Leben haben. Nur eine einzige Frau, wie als Alibi in den Beitrag eingeschnitten, sagt diesen einen Satz: „Ich hätte da schon Bedenken.“ Mehr nicht.

In einem Beitrag der WDR-Lokalzeit Köln, auch von gestern, ist die Tonalität ganz anders, viel entspannter. Die Session, bei der der WDR gedreht hat, ist ausgelassen, alle freuen sich, es ist nirgends von Bedenken die Rede oder von Polizeischutz, alle sind jut druff. Aber, wie gesagt, da sind halt genug andere Journalisten, die Angst und Bedenken haben. Oder vielleicht auch keine Bedenken, sondern Bock auf eine Geschichte, die sich gut verkauft, weil man mit Angst gut Geschäfte machen kann. In diesem Sinne und zur Freude aller Freiheitsgegner: Kölle Alaaf!

Warum die „Millionärswahl“ blöd war. Und warum es blöd ist, dass sie blöd war.


Fotos: Sat.1/ProSieben/Willi Weber

War ja klar. Wenn ich schon mal vorab groß über eine neue Show schreibe, weil ich das Konzept faszinierend finde und mich über den Mut freue, es auszuprobieren, wird es ein Desaster. Mitte Dezember war ich in Köln, um mit Karsten Dusse, dem Erfinder der „Millionärswahl“, zu sprechen. Geredet hat aber vor allem Jörg Grabosch, der Chef der Produktionsfirma Brainpool. Fast zwei Stunden lang sprudelte es aus ihm heraus. Er war so begeistert von dem simplen Konzept, einen Millionär vom Publikum wählen zu lassen, und aufgeregt, wie man daraus eine gute Show machen kann, wenn nicht Redakteure die Teilnehmer und Inhalte bestimmen, sondern eine Community im Internet.

Die beiden haben mir die Tafel gezeigt, auf der sie versucht haben, aus den 49 sehr unterschiedlichen Kandidaten sieben abwechslungsreiche Shows zu komponieren. Sie haben mir die ersten Vorstellungs-Einspielfilme gezeigt, die versuchten, aus den Internet-Videos der Leute professionell wirkende Fernseh-Trailer zu machen. Sie haben mir von der „Convention“ erzählt, zu der sie alle 49 nach Köln eingeladen haben, damit sie dort gefilmt, fotografiert und interviewt werden, weil die Zeit gar nicht ausgereicht hätte, die alle zuhause zu besuchen. Über Weihnachten und Silvester haben die besten Leute bei Brainpool an dieser Show gearbeitet.

Es war leider trotzdem keine gute Show.

Ich glaube, der Hauptfehler war, aus dem Konzept der Millionärswahl eine große Show zu machen, in der Leute live auf der großen Bühne etwas vorführen. Die meisten Kandidaten, die ins Fernsehen gewählt wurden, hatten irgendwelche Talente und konnten etwas ganz gut. Da war eine Frau, die ganz gut mit einem Ball umgehen kann, eine Gruppe junger Männer, die ganz gut turnen kann, ein Motocross-Fahrer, der ganz gut Freestyle-Sprünge kann, ein Sänger und Musiker, der, naja.

Viele dieser Leute waren nicht schlecht. Aber keiner war so gut, dass man sagte: Wow, für die Leistung hätte er eine Million Euro verdient.

Vielleicht hätte man anders geurteilt, wenn man die Leute gekannt hätte. Wenn man mehr über ihre Geschichte und Geschichten erfahren hätte. Wenn man das Besondere an den Persönlichkeiten kennengelernt hätte.

„Wem gönnst du die Million“, lautete die Frage, die die Show stellen wollte und die ich nach wie vor für faszinierend halte. Tatsächlich war sie aber so sehr auf die Performance auf der Bühne ausgelegt, dass es in der Sendung mehr klang nach: „Was muss jemand können oder machen, dass er dafür eine Million verdient hätte.“ Die Antwort lautet dann in den meisten Fällen schnell: Keine Ahnung, aber mehr als das.

Es hätte, anders gesagt, eine Gesprächssendung sein müssen, mit dafür geeigneten Moderatoren und einem passenden Rahmen, ohne das LED-Ufo-Getöse mitten im Raum. Aber das wäre dann vermutlich keine mehrstündige 20-Uhr-15-Show für ProSiebenSat.1 geworden. (Gut, so war sie es, wie sich dann herausstellte, auch nicht.)

Die Nähe in der Inszenierung zu den vielen bekannten Casting- und Dinge-um-die-Wette-Mach-Shows schadete der „Millionärswahl“. Es hätte sehr geholfen, wenn es mehr Kandidaten in die Sendung geschafft hätten, die nicht mit ihrem Talent oder ihrer Persönlichkeit, sondern eine tollen Idee zur Verwendung des Geldes angetreten wären. Die eine genaue Vorstellung hätten, was sie mit dem Gewinn anstellen wollen: Filmstudenten oder Erfinder, zum Beispiel, so dass alle etwas davon haben, wenn einer von ihnen die Million bekommt. Aber die haben sich kaum beworben. Und wenn sie es getan hätten, weiß man auch nicht, ob die Show-Firma Brainpool es geschafft hätte, sie und ihre Ideen in diesem Rahmen ansprechend in Szene zu setzen.

Womöglich wären auch die Reaktionen auf den Überraschungssieger der ersten Sendung nicht so heftig ausgefallen, wenn man mehr ihn über sein Projekt — eine Tanzschule für Kinder — erfahren hätte. Vielleicht hätte sich dadurch erklären lassen, warum die anderen Kandidaten, die ihn kannten, ihm so viele Punkte gaben, dass er gewann, obwohl das Publikum nicht für ihn gestimmt hatte. Die Zuschauer hatten vor allem seine Performance auf der Bühne gesehen, und die war jetzt nicht so spektakulär.

Ach, und das Voting. Es war kein Versehen, dass die Kandidaten in der ersten Show mit ihrem Voting das Feld noch komplett durcheinander würfeln konnten. Dass die Punkte, die sie vergaben, die Entscheidung brachten und dass die im Angesicht der Punkte gefällt wurde, die vorher schon abgegeben worden waren. Grabosch hat mir mehrmals stolz vorgerechnet, wie diese 28 Punkte der Teilnehmer untereinander am Schluss alles noch drehen können.

Das Publikum fand das aber offenkundig nicht aufregend und fasznierend, sondern empörend — angesichts des speziellen zufälligen Verlaufs der Punktevergabe war das sehr nachvollziehbar und führte vermutlich zu der Regeländerung in der zweiten Sendung.

Solche Dinge passieren, wenn man kein fertiges und im Ausland vielfach getestetes Format einkauft, sondern eine eigene Idee hat und daraus eine Show bastelt. Fernsehkritiker fordern die ganze Zeit, dass das deutsche Fernsehen nicht immer auf Nummer sicher gehen und auch einmal etwas wagen soll. Wer viel wagt, kann so richtig spektakulär scheitern.

Die „Millionärswahl“ war keine gute Show, und insofern ist es natürlich in Ordnung, dass das Publikum sie nicht eingeschaltet hat, und konsequent, dass ProSieben und Sat.1 nun mit drastischen Schritten Schadensbegrenzung versuchen. Blöd ist das aber nicht nur für die Möchtegernmillionäre, die sich auf einen großen Auftritt gefreut hatten, der sich für viele auch ohne den Gewinn gelohnt hätte. Blöd ist es auch für das deutsche Fernsehen. Zu fürchten ist nämlich, dass die Sender, und insbesondere die renditefixierte Gruppe ProSiebenSat.1, in Zukunft noch mehr auf Nummer sicher gehen und das Risiko des Neuen, Kreativen, Unerprobten meiden.

„Auch der Tod hat ein Recht auf Leben“

Die Kollegen fanden’s fast alle schrecklich. Hans Hoff meint, der Film sei „dem Tod geweiht. In jeder Hinsicht“. David Denk schreibt, er sei „irgendwie egal, irgendwie deutsch“. Daniela Zinser findet, das Drehbuch sei „brutal auf Romantikkitsch getrimmt“.


Fotos: Sat.1

„Und weg bist du“ ist eine Tragikomödie über die letzten Wochen im Leben von Schuhverkäuferin Jela Becker. Ihr Körper ist voller Metastasen. „Mit ein bisschen Pech übernimmt der Krebs mein Gehirn“, sagt sie, „mit ein bisschen Glück bin ich vorher tot.“ Der Tod erwartet sie schon an der Fahrstuhltür im Krankenhaus, aber sie schafft es, ihm zu imponieren – und zu entwischen. Bis zum achten Geburtstag ihrer Tochter in vier Wochen will sie unbedingt durchhalten.

Sie versucht, noch ein bisschen zu leben und sucht nach dem richtigen Weg, ihre Familie auf das Leben nach ihrem Tod vorzubereiten. Der Tod versucht derweil, an ihrer Stelle ihre alte, verbitterte Nachbarin (Ruth Maria Kubitschek) ins Jenseits zu befördern, die wirklich nicht am Leben zu hängen scheint.

Aus der Konstellation mit Christoph Maria Herbst als langhaarigem Tod, der sich in die Frau verliebt, die er sterben lassen soll, hätte eine schreckliche Klamotte werden können. Und der Film lässt die naheliegenden Pointen und Kalauer nicht aus. Mit Straßenschuhen in ihre gute Stube? „Nur über meine Leiche“, sagt die alte Frau zum Tod. Und der rechtfertigt seine Romanze mit den Worten: „Auch der Tod hat ein Recht auf Leben.“

Aber „Und weg bist du“ montiert die erwartbaren Versatzstücke solcher Filme zu einer dann doch immer wieder unberechenbaren, originellen, leichten Geschichte über das Sterben Leben.

Mir hat der Film sehr gefallen, er hat mich zum Lachen gebracht und bewegt, er hatte genau das richtige Maß Kitsch für mich und eine wunderbare Annette Frier in der Hauptrolle. Und weil man ja nicht so oft die Gelegenheit hat, für einen Sat.1-FilmFilm zu schwärmen, möchte ich diesen Sat.1-Filmfilm empfehlen.

Er ist übrigens so etwas wie der Abschiedsfilm von Sat.1-Geschäftsführer Joachim Kosack. Bei der Premiere am Kurfürstendamm sagte er vor dem versammelten Publikum aus Künstlern, Journalisten und Gästen: „Ich freue mich, dass mein Onkologe da ist“, und das war kein Witz. Sein Abschied ist dann aber zum Glück doch nur von Sat.1.

Bussi-Bussi, Bling-Bling, Balla-Balla

„Die Grundlagen des dualen Fernsehsystems verpflichten auch private Rundfunkstationen zu einer umfassenden politischen Berichterstattung. Diesem Informationsauftrag können wir durch Ihre heutige Entscheidung nicht gerecht werden.“

(Aus dem Protestschreiben von RTL, ProSiebenSat.1 und N24 an den Bundespräsidenten.)

Tja. Wie soll man über ein Gespräch berichten, bei dem man nicht selber dabei war? Das man nur vollständig zur Verfügung gestellt bekommt?

Zum Glück ist dem Münchner Privatsender Sat.1 dann doch noch ein Weg eingefallen, seinem Informationsauftrag trotz dieser erschwerten Bedingungen in vollem Umfang gerecht zu werden. Er hat sich an eine Frau gewandt, die es gewohnt ist, Dinge zu analysieren, die sie gar nicht wissen kann. Eine Frau, die weiß, wie die Dinge laufen in der Welt, und sich nicht scheut, sie auf den Punkt, vorzugsweise aber noch auf das Komma und das Ausrufezeichen zu bringen. Eine Frau, die als Möbelstück und Maskottchen im sendereigenen Frühstücksfernsehen lebt.

Sibylle Weischenberg.

Sibylle Weischenberg weiß nicht nur zuverlässig, was die Trendfarbe des nächsten Sommers ist, wer schön singt bei „The Voice“, wie ehrlich ein Liebesbekenntnis eines beliebigen Prominenten ist und mit wieviel Make-Up und welcher Frisur man gerade noch nicht irgendwo eingewiesen wird, wenn man nach der Arbeit das Sat.1-Studio verlässt. Sie weiß auch, was Pressefreiheit und Zensur ist.

Zensur ist zum Beispiel, weiß Sibylle Weischenberg, wenn Millionen von Menschen, die sonst eigentlich nur Barbara Salesch und Inka Bause gucken, gezwungen werden, auf der Fernbedienung das erste oder zweite Programm zu finden, um ein zwanzigminütiges Gespräch mit dem Bundespräsidenten sehen zu können:

„Wulff hat einfach mal eine Millionenschar von Menschen damit ausgeklammert, die nämlich bei den privaten Sendern vorzugsweise schauen. Das ist eine Unverschämtheit, auch das ist wieder eine Art von Zensur.“

Ein „Eingriff in die Pressefreiheit“ ist das, weiß Sibylle Weischenberg, ein „Skandal ohnegleichen“.

Aber sehen Sie selbst die wichtigsten Ausschnitte aus der gestrigen Analyse des Interviews des Bundespräsidenten. Es gestikuliert: Sibylle Weischenberg vom Sat.1-Frühstücksfernsehen. ((Hinweis für Menschen, die nur selten deutsches Privatfernsehen gucken: Es handelt sich nicht um eine Parodie.))
 

Sie sahen: Sat.1 beim Erfüllen seines Informationsauftrages. Oder um es mit Sibylle Weischenberg zu sagen: „Hallo?“

Ein Abschiedsgericht für Barbara Salesch

Das war eine der erstaunlichsten Erfahrungen, als Michael Reufsteck und ich damals versuchten, für unser „Fernsehlexikon“ herauszufinden, was eigentlich die letzten zehn, dreißig, fünfzig Jahre im Fernsehen gelaufen ist: Die Sender selbst wissen es auch nicht.

Beim NDR hat mich ein Kollege in weit abgelegene Räume geführt, wo Unmengen bestenfalls viertelsortierter Programmablaufpläne und Presseausschnitte vor sich hinrotteten. Bei RTL sagte man uns, dass man in den Anfangsjahren voll und ganz damit ausgefüllt war, Fernsehen zu machen, und sich nicht auch noch darum kümmern konnte, für die Nachwelt festzuhalten, was man da tat. Und bei Sat.1 bestand das historische Archiv, soweit die Kollegen sich erinnern konnten, im Wesentlichen aus einer Sammlung von Ausgaben der Fernsehzeitschrift „TV Movie“ ab 1991 oder so. (Und vermutlich hat auch die jemand nach der Zwangsumsiedelung zu ProSieben nach München kurzerhand entsorgt.)

So gesehen ist es kein Wunder, dass heute fast überall steht, Barbara Salesch – die zum Ende des Jahres ihre Gerichtsshow aufgeben will – hätte ihre Fernsehkarriere in einer Sendung namens „Schiedsgericht“ begonnen. Verbreitet wird das unter anderem von der Nachrichtenagentur dapd:

Salesch ist den Angaben [von Sat.1] zufolge Deutschlands dienstälteste TV-Richterin. Ihre Fernsehkarriere startete die Juristin am 27. September 1999 in der Sat.1-Sendung „Schiedsgericht“, in der echte zivilrechtliche Fälle verhandelt und rechtskräftige Urteile gesprochen wurden. (…) Seit Oktober 2000 werden in dem Format „Richterin Barbara Salesch“ ausschließlich fiktive strafrechtliche Fälle verhandelt.

Es gab aber nie eine Sendung namens „Schiedsgericht“. „Richterin Barbara Salesch“ hieß vom ersten Tag an „Richterin Barbara Salesch“. Der Fehler stammt aber nicht von den dapd-Leuten (denen das unbedingt zuzutrauen wäre), sondern von Sat.1 selbst, wo mit großer Wahrscheinlichkeit außer Frau Salesch und dem Comedy- und Show-Redakteur Josef Ballerstaller niemand mehr arbeitet, der dort auch schon 1999 gearbeitet hat.

Und weil offenbar die Neuen nichts mehr haben, wo sie es nachgucken könnten (außer, natürlich, hoffentlich, ein Exemplar des unverzichtbaren „Fernsehlexikons“), beginnt die heutige Pressemitteilung mit den Worten:

Unterföhring, 1. Juli 2011. Eine TV-Ära geht zu Ende: Am 27. September 1999 startete „Richterin Barbara Salesch“ in SAT.1 als „Schiedsgericht“.

Die Formulierung findet sich seit 2004 in den Pressemitteilungen des Senders (zur 1000. Sendung „Richterin Barbara Salesch“, zur 1500. Sendung „Richterin Barbara Salesch“, zur 2000. Sendung „Richterin Barbara Salesch“). Und das Lustige ist, dass sie stimmen würde, wenn man die Anführungszeichen um „Schiedsgericht“ wegließe, denn es handelte sich um ein solches.

Aber spätestens mit dem heutigen Tag ist die Sendung „Schiedsgericht“, die es nie gegeben hat, nachträglich Bestandteil der Geschichte des deutschen Fernsehens geworden.

Michael Wendler


Foto: Sat.1

Für Adeline, die siebenjährige Tochter des Schlagersängers Michael Wendler, ist so eine Doku-Soap über ihre Familie eine feine Sache. Sie wird sich in zwanzig Jahren viele Analysestunden sparen können, indem sie ihrem Therapeuten einfach die Videos zeigt. Die Szene zum Beispiel, in der sie in der eher zum Putzen als zum Kochen genutzten Küche einen Becher Kakao verschüttet, und ihre Mutter reagiert, als seien dem Kind auf dem Weg zur Schule drei Uranbrennstäbe aus dem Tornister gefallen. Dann kommt die Großmutter hinzu, markiert mit spitzen Fingern alle drei kleinen Kakao-Pfützen und ruft eine ganze „Wie konnte DAS denn passieren?“-Frage der Mutter lang „Iiiieh“. Dass die Mutter sogar noch ein zweites Küchentuch zum Wegwischen braucht, veranlasst Oma zu der Bemerkung, dass sie, solange sie ein Kind habe, nie zur Ruhe kommen werde. Adeline stellt nun die durchaus angemessen erscheinende Frage, warum ihre Mama sie überhaupt zur Welt gebracht habe, wenn sie sie gar nicht wolle, und Oma gibt sich ein bisschen zu viel Mühe, ihr beim Über-die-Haare-Streicheln zu erklären, sie sei doch ein „Wunschkind“ gewesen.

Das ist das Aufregendste, das in den ersten 45 Minuten der sechsteiligen Serie „Der Wendler-Clan“ passiert, die Sat.1 ab heute sonntags um 19 Uhr zeigt. Das Zweitaufregendste ist, wie sich Wendler darüber ärgert, dass ein Kollege ihn auf offener Bühne in Bottrop gefragt hat, ob er mit dem Hubschrauber, dem Lamborghini oder dem 600er Mercedes angereist sei – aus bloßem Neid, wie Wendler meint. (Könnte natürlich auch etwas damit zu tun haben, dass das eine, das Wendler noch mehr mag als den Disco-Fox und sich selbst, das Rumprotzen mit Reichtümern ist. In Oberlohberg, dem unsympathischen Teil Dinslakens, steht ein Baustellenschild: „Hier baut Michael Wendler, der König des Popschlagers, sein Märchenschloss.“)

Er ist ein Phänomen, vor allem in seiner ungebrochenen Begeisterung für sich selbst, die gleichzeitig so befremdlich und beneidenswert ist, dass man sie ihm nicht einmal richtig übel nehmen kann (solange er nicht singt). Als niedliche Figur aus einem Gruselkabinett hat er dem Fernsehen sogar schon unerwartete (und teils unfreiwillige) Glanzminuten beschert, im „perfekten Promi-Dinner“ etwa und bei Ina Müller. Aber von dieser biederen und sehr gespielt wirkenden Doku-Soap bleibt bestenfalls eine Redensart: In Dinslaken ist ein Becher Kakao umgefallen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Was würde Umberto Eco über Kerner sagen?

Ich wollte mich ja erst reflexartig echauffieren über die sagenhaft irreführende Überschrift, die der Online-Auftritt der „Rheinischen Post“ seiner Premierenkritik von „Kerner“ auf Sat.1 gegeben hat:

Dann habe ich aber versehentlich den Artikel selbst gelesen, und konnte es nicht glauben, wie treffend und vernichtend der Autor Ulli Tückmantel das Wesen des Fernsehmoderators Johannes B. Kerners dekonstruiert hat — nicht allein allerdings, sondern mit Hilfe eines fast 50 Jahre alten Aufsatzes von Umberto Eco über den italienischen Quizmaster Mike Bongiorno.

Tückmantel schreibt:

(…) wie kann man nicht an Kerner denken, wenn man so wundervolle Sätze liest, wie: „Er achtet sorgfältig darauf, den Zuschauer nicht zu beeindrucken, indem er sich nicht nur unwissend zeigt, sondern auch entschlossen, nichts dazuzulernen.“

(…) Kerner hat keine Ahnung von den Dimensionen der Komik, die er erschließt, wenn er einen 29-Jährigen Geisterseher ohne jeden Anflug von Ironie fragt, ob Tote im Studio anwesend sind, und dann in seiner buchhalterischen Manier nachhakt, wie viele Tote es wohl gemessen an der Publikumszahl sein könnten.

Und selten habe ich einen Satz gelesen, der mein manchmal diffuses Unbehagen gegenüber Kerner so auf den Punkt bringt wie dieser:

Wie Bongiorno akzeptiert er vom Mainstream abweichende Meinungen seiner Gäste nicht aus liberaler Überzeugung, sondern aus Desinteresse.

(Schön ist aber auch, dass ich nicht der einzige bin, der einen solchen Artikel nicht in diesem Medium erwartet hat. Ein Leser kommentiert: „Sie müssen neu im Team der RPO sein. Bitte machen Sie nach Ihrem Praktikum doch bitte dort weiter so!“ Nun: Tückmantel leitet bereits das „Report“-Ressort der Gesamtausgabe der „Rheinischen Post“ und schreibt in dieser Funktion auch Kommentare, die mir gar nicht behagen.)

(Meine eigene Kritik steht in der „taz“.)

Die gute Nachricht des Jahres

Johannes B. Kerner gibt größere Teile des ZDF wieder frei. Sat.1 nimmt ihn.

Nachtrag. Im Vorspann zu seiner ersten „Johannes B. Kerner Show” 1998 im ZDF ist schon alles Schlimme drin, insbesondere der Ich-frag-ja-nur-Blick bei 0:17:

[Ich habe versehentlich den gleichlautenden Original-Eintrag gelöscht, samt der vielen lustigen Kommentare. Entschuldigung!]

Nicht nur die Liebe zählt

Am vergangenen Samstag bei „Nur die Liebe zählt“ auf Sat.1:

Kai Pflaume: Frank. Du hast’n Mädel kennen gelernt.

Frank: Stimmt.

Kai Pflaume: Wann wie und wo ist es passiert?

Frank: Es müsste jetzt drei Wochen her sein. Einen Monat ungefähr. Ich hab sie in den „Lokalisten“ kennengelernt. Per Internet.

Kai Pflaume: „Lokalisten“ ist ne Community, ne?

Frank: Ja, genau. Und… wie soll ich sagen…

Kai Pflaume: Ich könnte mir vorstellen, da sind erstmal ganz viele Leute. Und viele nette Mädels.

Frank: Jaja!

Kai Pflaume: Wie bist du auf sie aufmerksam geworden?

Frank: Sie hat mich angeklickt, und ich dachte mir: Wow. Wenn sie das ist, muss ich gleich anklicken, auf jeden Fall. Muss ich sie näher kennen lernen.

Kai Pflaume: Das waren noch Zeiten, wo man sich angesprochen hat. Heute muss man sich anklicken.

Frank: Ja.

Kai Pflaume: Und gibt man dann da so für gewöhnlich seine Telefonnummer raus?

Frank: Noch am selben Tag. Am selben Abend.

Kai Pflaume: Was war das, was dich bei ihr fasziniert hat, was du vielleicht in anderen Profilen nicht gefunden hast. Also, es gibt Fotos da von ihr, nehme ich an?

Frank: Erstens das. Ihr Aussehen ist… Für mich perfekte Traumfrau auf jeden Fall. (…) Wahnsinn. (…) Heiß.

Kai Pflaume: Okay. Gut. Wenn ihr euch jetzt schon angeklickt habt, gechattet habt, telefoniert habt, sowieso voneinander wisst, wo ihr euch da bei den „Lokalisten“ treffen könnt, warum bist Du denn dann hier?

Frank: Hmm, das ist, weil diese „Lokalisten“-Community vor ein paar Monaten von ProSiebenSat.1 übernommen wurde, und jetzt muss man natürlich sehen, dass man dafür Werbung macht — vor allem, weil die Konkurrenz „Wer kennt wen“ von RTL viel bessere Zahlen hat bisher. Und ich meine, hier bei dir auf dem Sofa, Kai, das passt doch super und fällt nicht so auf. Soll ich nochmal „Lokalisten“ sagen?

Ah, falsch. Die letzte Antwort habe ich mir nur ausgedacht. In Wahrheit hat Frank natürlich gesagt:

Frank: Hmm, das ist, weil wir uns leider noch nie live gesehen haben. (…) Ich wohn in München, sie wohnt in Linz. Sie studiert und ich arbeite.

Kai Pflaume hat die Traumfrau von Frank dann noch an ihrer Uni in Linz besucht und ihr das Video gezeigt, das Frank für sie gedreht hat. Zufällig ergab sich dabei noch folgender Wortwechsel:

Kai Pflaume: Wo hast du ihn kennen gelernt?

Edita: Im Internet.

Kai Pflaume: Okay, wo war das im Internet?

Edita: Muss ich die Seite sagen?

Kai Pflaume: Kannste sagen, wenn du willst.

Edita: „Lokalisten“. Deutsche Seite.

Kai Pflaume: Okay.

Diese Folge von „Nur die Liebe zählt“ wird am kommenden Samstag, 22. November, um 14:20 Uhr wiederholt. Natürlich auf Sat.1.

[mit Dank an Strappato!]

„Im Prinzip sitzen wir nur unsere Zeit ab“

1976 hat das ZDF für eine Langzeitdokumentation von Helmut Greulich ausprobiert, was passiert, wenn man Menschen vier Wochen den Fernseher wegnimmt.

Sowas ist natürlich heute schon als Versuchsanlage völlig unrealistisch. Nur ein Wochenende lang wollte Sat.1 für die Ausgabe seines Vorabendmagazins am vergangenen Sonntag der Berliner Familie Mantel ihre fünf Fernseher sowie Radios und Computerspiele wegnehmen.

Das hier ist die Stimmung nach nicht einmal 24 Stunden:

Am Sonntagnachmittag war Herr Mantel soweit mit den Nerven runter, dass er das Experiment vorzeitig abbrach.

Es ist ein (vor allem für das „Sat.1-Magazin“) erstaunliches kleines Stück Fernsehen, ebenso amüsant wie erschütternd. Und die Einschaltquote der Sendung am Sonntag war natürlich mies.

Auf sat1.de kann man sich den Beitrag ansehen: